Heft 63 (32. Jg. 2019): »Psychoanalyse und Telepathie«. Die drei Patienten in Freuds Vortrag auf der Harzreise 1921

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Editorial (S. 5–6)


Der Themenschwerpunkt des vorliegenden Hefts sollte einem epochalen Ereignis in der Geschichte der Freud-Forschung gewidmet werden: der Digitalisierung des Freud-Archivs in der Library of Congress (Washington), das in dieser Form im Februar 2017 ins Netz gestellt wurde. Epochal war das Ereignis zum einen, weil damit sämtliche Freud-Manuskripte, ob Werke oder Briefe, die in Washington lagern (und das ist die große Mehrzahl), für den häuslichen Zugriff kostenlos zugänglich gemacht wurden; und zum anderen, weil auch nahezu alle Interviews freigegeben wurden, die Kurt R. Eissler, der Gründer und langjährige Direktor des Archivs, mit den verschiedensten Zeitzeugen führte, die Freud gekannt hatten. Um aus der Masse des Materials ein lohnendes und handhabbares Heftthema zu gewinnen, war geplant gewesen, sich auf die Interviews und bei ihnen auf solche mit Freud-Patienten zu konzentrieren. Dann aber entwickelten die Recherchen der beteiligten Hauptautoren Richard Skues und Ulrike May, die sich wechselseitig beflügelten, eine eigene Dynamik, die dazu führte, Freuds Vortrag auf der Harzreise des „Komitees“ im Herbst 1921 über „Psychoanalyse und Telepathie“ und die drei Patienten, die darin eine Rolle spielen, in den Fokus zu nehmen.

In einem großen Rundblick beschreibt Richard Skues, wie Freud dem Thema Telepathie ab Anfang der 1920er Jahre nähertrat, wie er zuerst zögerte, der obskuren Sache die Unterstützung der Psychoanalyse zu leihen, wie er 1925 durch eigene Experimente dazu gebracht wurde, öffentlich, auch in der Tagespresse, die Möglichkeit der Gedankenübertragung anzuerkennen, und schließlich 1933 in der Neuen Folge der Vorlesungen dem Thema ein eigenes Kapitel in der Reihe der letzten Fortschritte seiner Lehre widmete. Seinen Vortrag von 1921 freilich hatte er verlegt. Er erschien 1941 posthum in retuschierter Form und wird in einer online-Beigabe zum vorliegenden Heft erstmals nach dem Original publiziert. ? Ulrike May verbindet die ursprüngliche Intention des Themenschwerpunkts mit seinem jetzigen Fokus: Sie identifiziert einen jungen Philosophen, Willy Haas, der bis 1910 bei Freud in Analyse war und darüber in einem Interview mit Eissler berichtete, als einen Patienten des Telepathie-Vortrags von 1921 – und en passant auch als frühes Mitglied der Münchener Ortsgruppe der IPV. ? Elfriede Hirschfeld war als Hauptpatientin Freuds im allgemeinen und seiner Telepathie-Studien im besonderen schon bekannt; Richard Skues trägt neue biographische Informationen über sie zusammen. – Eine detektivische Meisterleistung ist seine Identifizierung des dritten Patienten: Er agnosziert ihn als den Bankier Robert Eisler, zu dem Freud zeitweise auch private Beziehungen pflegte (im Interesse seines Sohnes Martin), was Skues zum Nachdenken über die soziologischen Bedingungen heutiger Ideale analytischer Praxis anregt.

Die nächsten beiden Beiträge hätten im Themenschwerpunkt Platz gefunden, wenn sich dessen Fokus nicht verengt hätte. Ulrike May beschreibt einige verstörende Erfahrungen, die sie bei der Lektüre der Eissler-Interviews gemacht hat, und arbeitet an ihnen Unterschiede zwischen Freuds Praxis und dem Vorgehen heutiger Analytiker heraus. ? Thomas Kurz nimmt Eisslers Interview mit dem langjährigen Vorsitzenden der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse Philipp Sarasin zum Ausgangspunkt einer biographischen Skizze über den Mann, mit dem Freud möglicherweise die längste seiner Lehranalysen überhaupt durch führte. Sarasin hat Freud als einschüchternde Autorität erlebt, was mit dem Selbstbewusstsein, das er ansonsten an den Tag legte, kontrastiert. ? Es folgen eine Darstellung der Unterstützung des amerikanischen Neffen von Freud, Edward L. Bernays, für seine 1938 in Wien verbliebenen Tanten (Florian Fossel), eine biographische Skizze der jungianischen Diakonisse Siegrid zu Eulenburg, die Psychotherapie im kirchlichen Rahmen praktizierte (Christiane Ludwig-Körner), und die Rekonstruktion des Lebens eines bisher unbekannten, selbsternannten „Psychoanalytikers“ Julius Mändle aus Köln, der 1940/41 nach Brasilien floh (Ilia Borovikov und Karola Fings) sowie einige kleinere Mitteilungen und die Rezensionen.


Abschließend ist noch ein Markstein in der Geschichte von LUZIFER-AMOR zu würdigen. Dank der Unterstützung einiger Autoren und Freunde der Zeitschrift ? insbesondere von Ulrike May, von der die ganze Initiative ausging ? sowie der generösen Zustimmung des Verlegers Roland Apsel und einem namhaften Zuschuss von Matthias von der Tann (London) wurde es möglich, LUZIFER-AMOR unter die Zeitschriften aufzunehmen, deren Beiträge (nach einer Sperrfrist von, in unserem Fall, fünf Jahren) über PEP (Psychoanalytic Electronic Publishing Web) im Volltext zugänglich sind. Jeder Forschende weiß, dass damit die Wahrnehmbarkeit der Beiträge von LUZIFER-AMOR im heute allentscheidenden Internet und ihre praktische Benutzbarkeit (z. B. durch Suchfunktionen) um ein Vielfaches gesteigert werden. Wir meinen, dass wir unseren Autoren mit diesem Schritt einen nachhaltigen Dienst geleistet haben, und empfinden die Aufnahme in PEP als eine Art Nobilitierung. Ein herzlicher Dank an alle, die dazu beigetragen haben.

Michael Schröter