Heft 49 (25. Jg. 2012): S. Freud, "Kritische Einleitung in die Nervenpathologie" (1885–87). Erstedition und Kommentare

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Editorial (S. 5–6)

Am 4. Januar 2012 ist Gerhard Fichtner gestorben, die unbestrittene Zentralgestalt der deutschsprachigen psychoanalysehistorischen Szene. Sein Tod reißt eine große, schmerzliche Lücke. Ein Nachruf am Ende dieses Hefts versucht, seine Person und seine vielfältigen Leistungen in unserem Feld zu würdigen. –

Zum Heft: "Ich bin nicht immer Psychotherapeut gewesen, sondern bin bei Lokaldiagnosen und Elektroprognostik erzogen worden wie andere Neuropathologen", schreibt Freud 1895 in einer der meistzitierten Passagen seines Werks, in der er den Vorwurf pariert, dass sich seine Krankengeschichten "wie Novellen" läsen. Selten wird jener Vordersatz ernst genommen, der den Punkt benennt, von dem aus Freud zum Psychotherapeuten und subtilen Darsteller seelischer Vorgänge wurde. Seine "voranalytischen" Schriften sind, mit bestimmten Ausnahmen, bis heute nicht nachgedruckt. Vermutlich aber werden seine Brautbriefe (1882–1886), deren fünfbändige Ausgabe im letzten Jahr zu erscheinen begonnen hat, nicht nur die Persönlichkeit des jungen Freud, sondern auch eben die voranalytische Phase seines wissenschaftlichen Lebens neu in den Fokus rücken.

Einer solchen Fokussierung dient der Themenschwerpunkt des vorliegenden Hefts. Im Zentrum steht die erstmalige Edition eines neurologischen Manuskripts, das Freud in wesentlichen Teilen noch 1885/86 während seines Studienaufenthalts bei Charcot in Paris verfasst hat. Die "Kritische Einführung in die Nervenpathologie" sollte eine kleine Monographie werden. Freud stellte darin zuerst die "Architektur des Nervensystems" dar, "das Centralgrau des Rückenmarkes nebst beiden von ihm ausgehenden Fasermassen, den Wurzeln und dem Markmantel". Beim Übergang zum Gehirn selbst bekannte er, dass sich dieses durch seine Komplexität einer analogen Darstellung widersetze. Er scheint dann vor der Aufgabe kapituliert zu haben; das Manuskript blieb Fragment. Ein markanter Höhepunkt der Erörterungen ist eine Auseinandersetzung mit der Zentren- und Lokalisationslehre seines Lehrers Meynert, die auf eine ähnliche Kritik in Freuds Aphasie-Studie von 1891 vorausdeutet.

Katja Guenther, die das Manuskript zusammen mit Gerhard Fichtner und Albrecht Hirschmüller ediert hat, beleuchtet in einem einleitenden Aufsatz den Entstehungszusammenhang und die Zielrichtung des Textes. Sie hebt hervor, dass sich Freud darin von der deutschsprachigen Neuropsychiatrie seiner Zeit mit ihrer anatomischen Ausrichtung zugunsten physiologischer Methoden und eines funktionellen Ansatzes distanzierte. Er schlug eine Brücke zur avancierten französischen Neuropathologie und gewann in Anlehnung an Charcot und dessen klinische Methode die Möglichkeit, Phänomene wie die Hysterie, die sich dem vorherrschenden pathologisch-anatomischen Paradigma entzogen, einer wissenschaftlichen Betrachtung zuzuführen. Insofern gehört nach Guenther die "Kritische Einführung" zur direkten Vorgeschichte der Psychoanalyse.

Ebenfalls im Rahmen des Themenschwerpunkts untersucht Anneliese Menninger einige der unsignierten Beiträge zu Villarets Handwörterbuch der gesamten Medizin (1888) im Blick auf eine Autorschaft Freuds. Sie weist Freud einige bisher noch nicht erwogene Artikel zu, bestätigt seine (zuletzt bestrittene) Autorschaft für den Artikel "Aphasie" und widerlegt sie für andere ihm zugeschriebene Beiträge, insbesondere für den Abschnitt "II. Physiologie" des Artikels "Gehirn". Ihr Aufsatz gewinnt seine Überzeugungskraft durch die Kombination von philologischen und theoriegeschichtlichen Argumenten, wobei u. a. kritische Bezüge zu Meynert und affirmative zu Charcot eine Rolle spielen. Dieses Spannungsverhältnis verbindet die betrachteten Artikel mit der wenig früheren "Kritischen Einführung" und spricht für Menningers These, dass sie als Beiträge zum selben Buchprojekt intendiert gewesen sein könnten wie jenes Manuskript.

Die Reihe der freien Forschungsbeiträge wird eröffnet durch eine Studie von Christian Müller über den russischen Psychiater Susman Galant, der zeitweise Assistenzarzt bei Eugen Bleuler war und sich durch dessen zugleich selbstverständliche und kritische Freud-Rezeption beeinflussen ließ. Hanna Stouten stellt den Briefwechsel zwischen Marie Bonaparte und Max Schur vor, der in seiner intensivsten Phase vor allem um Freuds Gesundheit kreiste, während am Ende Schurs Funktion als Leibarzt von Bonaparte im Vordergrund stand. Harry Stroeken rekonstruiert ein bisher unbekanntes Kapitel aus dem Amsterdamer Leben von Karl Landauer: eine Grenzverletzung, die von seinen Kollegen mit der ganzen Härte des professionellen Über-Ichs geahndet wurde.

In einer kritischen Glosse berichtet Christian Hampel mit der Verve des Betroffenen von Problemen der DPG mit ihrer Nachkriegsgeschichte vor 1960, die als schamhaft verdrängtes Erbe fortwirke. Drei Buchessays befassen sich mit dem 1. Band der Brautbriefe von Freud und Martha Bernays (Michael Molnar), mit einer Biographie von Fritz Perls (Helmut Dahmer) und mit den Beiträgen zur Hundertjahrfeier der Psychoanalyse in Deutschland (Annette Simon), d. h. de facto, wie die Autorin bezogen auf die Zeit nach 1945 moniert, in einem "Deutschland" ohne Osten.