Heft 50 (25. Jg. 2012): Unbekannte Freud-Briefe

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Editorial (S. 5–6)

Die Zeitschrift LUZIFER-AMOR – der Titel bezeugt die findige Sprachlust ihres ersten Herausgebers und Verlegers Gerd Kimmerle – wurde 1987 gegründet. Damals erlebte die historische Beschäftigung mit der Psychoanalyse eine Hochblüte. Mehr oder weniger gleichzeitig entstanden zwei weitere Institutionen des Feldes, das Symposion und das Archiv zur Geschichte der Psychoanalyse. Während die ambitionierteren nicht-deutschen Sprösslinge des damaligen Kairos, die Revue Internationale d'Histoire de la Psychanalyse und die sie tragende Association, inzwischen untergegangen sind, existieren die deutschen Gründungen bis heute. LUZIFER-AMOR erscheint mit dem vorliegenden Heft zum 50. Mal. Zur Feier dieses Jubiläums wurde, unter Mitwirkung von Dominic Angeloch, ein Gesamtregister für alle bisherigen Hefte erarbeitet.

Ein Blick in die dort wiedergegebenen Inhaltsverzeichnisse macht sofort klar, dass die Zeitschrift nur fortbestehen konnte, weil sie sich verändert hat. Ausdruck dessen waren nicht zuletzt die Wechsel der Herausgeber, unter denen neben Gerd Kimmerle (H. 1–32) vor allem Ludger M. Hermanns (H. 16–32) zu nennen ist. Zu Beginn waren die Themen grundsätzlicher, höher fliegend, weiter gespannt. Man hegte vor 25 Jahren vielfach die Hoffnung, dass die Beschäftigung mit der Geschichte zu einer kritischen Befruchtung der gegenwärtigen Psychoanalyse und zu einer Beförderung ihrer sozialen Relevanz beitragen könnte. Diese Hoffnung war sehr von Wünschen geprägt. Tatsächlich hat sich die psychoanalysehistorische Arbeit im Sinne normaler Wissenschaftsgeschichte professionalisiert und spezialisiert, eine Entwicklung, die LUZIFER-AMOR sowohl gespiegelt als auch mitgestaltet hat. Der Gewinn an Forschungssubstanz, der dadurch zweifellos erzielt wurde, ging einher mit einem ebenso zweifellosen Verlust an wissenschaftstheoretischer Tiefe, thematischer Breite und Nähe zu aktuellen psychoanalytischen Diskursen. Die Abonnentenzahlen sind im Zuge dieses Prozesses, ob durch ihn bedingt oder nicht, gesunken. Möge das verbliebene Interesse an der Zeitschrift, den Moden des Zeitgeistes enthoben, umso stabiler sein.

Zur Professionalisierung der psychoanalysehistorischen Arbeit gehört, dass sie sich heute entschiedener auf Quellen, zumal auf ungedruckte Archivalien, bezieht. Hier stehen Freuds Schriften und Briefe vornean, und dies umso mehr, seit im Jahr 2010 die Rechte an ihnen frei geworden sind. Seitdem kann es sich LUZIFER-AMOR leisten, immer wieder den Themenschwerpunkt eines Hefts der Erstpublikation von Freud-Texten zu widmen. Das begann in Heft 49 mit der frühen "Kritischen Einleitung in die Nervenpathologie", setzt sich im vorliegenden Heft mit zuvor unveröffentlichten Briefkonvoluten fort und wird in Heft 51 mit einer historisch-kritischen Edition von "Jenseits des Lustprinzips", unter Berücksichtigung der bisher ungedruckten Erstfassung, noch nicht zu Ende sein.

Die drei Briefgruppen, die den diesmaligen Schwerpunkt bilden, sind von unterschiedlicher Art. Die Mitteilungen an Kata und Lajos Lévy, bei deren biographischer Kommentierung Thomas Aichhorn federführend war, demonstrieren insbesondere, wie Freud mit der bei ihm nicht seltenen Vermischung von freundschaftlicher und ärztlich-analytischer Beziehung umging, etwa auch in der Funktion des Eheberaters. Ein als Anhang beigefügter Text von Kata Lévy über die Anfänge dieser Beziehung im Sommer 1918 zeichnet das Bild eines Idylls vor dem "Weltuntergang" (dem nahen Kriegsende). – Die Briefe aus Tegel 1928–1930, die Christfried Tögel zusammengestellt und mit-ediert hat, sind vor allem ein Dokument von Freuds Kampf um die Verbesserung seiner Kieferprothese und damit um die Erhaltung seiner Lebensfunktionen – Essen, Sprechen, Rauchen – nach der Krebsoperation. Familienbriefe wie diese vermitteln einen Eindruck von der Intensität, mit der Freud am Alltag seiner Angehörigen Anteil nahm und sie umgekehrt an seinem Leben von Tag zu Tag teilnehmen ließ. – Im Gegensatz dazu stammen die von Andreas Peglau mit-herausgegebenen Briefe an Siegfried Bernfeld aus der beruflichen Sphäre. Ihr Zentrum sind drei Schreiben von 1932, als Freud die Veröffentlichung des Masochismus-Aufsatzes von Wilhelm Reich zuerst verhindern und dann nur mit einer Kritik, die Bernfeld lieferte, zulassen wollte.

Im ersten Beitrag "Aus der Forschung" erkennt Marina D'Angelo eine aktuelle Determinante von Freuds mehrjähriger Hemmung, nach Rom zu reisen, in der Dynamik seiner Freundschaft mit Wilhelm Fließ. Tilmann Kluttig beleuchtet ein spannend-abseitiges Kapitel aus der Rezeptionsgeschichte der Psychoanalyse. Der Basler Gewerbeinspektor Walter Strub war Kommunist und der Psychoanalyse zugeneigt, die er sowohl als Patient in Anspruch nahm wie auch in seiner beruflichen Arbeit mit Lehrlingen anzuwenden versuchte. Es ist ein Glücksfall, dass Kluttig durch Verwandtschaftsbeziehungen Zugang zu privaten Dokumenten, vor allem dem Briefwechsel der Eheleute Strub, fand, die es ihm erlauben, über eine Art von nicht-professioneller Nutzung der Psychoanalyse zu berichten, die der Forschung gewöhnlich verschlossen bleibt.

Ein Rezensionsessay von Annette Simon über Psychotherapie in Ostdeutschland beschließt das Heft, mit dem LUZIFER-AMOR die Schwelle zur nächsten Etappe einer hoffentlich noch langen Geschichte erreicht.