Heft 53 (27. Jg. 2014): Psychoanalyse in Geschichte(n).

Ulrike May zum 70. Geburtstag 

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Editorial (S. 5–6) 

Dies ist das erste Heft der neuen "Ära", in der LUZIFER-AMOR wieder zwei Herausgeber hat, die sich ab jetzt in der Verantwortung für die Hefte abwechseln und dementsprechend das jeweilige Editorial zeichnen. Der ebenfalls neu hinzugekommene "Redakteur Rezensionen" hat im vergangenen Herbst seine Tätigkeit aufgenommen.

Im diesmaligen Themenschwerpunkt ehrt LUZIFER-AMOR mit Ulrike May eine der wichtigsten deutschsprachigen AutorInnen im Bereich der Psychoanalysegeschichte. Über den Wert ihrer sorgfältig-intensiven theoriegeschichtlichen Studien, die immer wieder zu unerwarteten Ergebnissen führen – so zuletzt in Bezug auf Jenseits des Lustprinzips und die Konzeption von Todestrieb und Eros –, mögen andere urteilen; über die Eigenart, den Charme ihrer Arbeitsweise stellt Esther Fischer-Homberger in diesem Heft einige Reflexionen an. Sie entstanden für ein Symposion, das am 7. September 2013, zwei Monate post festum, zum 70. Geburtstag von Ulrike May im Literaturhaus Berlin veranstaltet wurde, mit Vorträgen von KollegInnen, denen sie sich besonders verbunden fühlt. Drei dieser Vorträge bilden den Schwerpunkt des vorliegenden Hefts. Ein vierter von Friedl Früh: "Auf Freuds Spuren – Eine Fallstudie zum Begriff des Autoerotismus" konnte leider nicht publiziert werden.

Den Auftakt macht Michael Molnar mit einem neuen Beispiel seiner Kunst, aus kleinsten Materialstücken große Zusammenhänge und tiefsinnige Überlegungen zu entwickeln. Es geht darin um eine psychotische Episode im Leben von Theodor Gomperz, dem späteren Gönner Freuds, anlässlich seiner Werbung um die Hand der Stieftochter von J. S. Mill. Von diesem Erlebnis schlägt Molnar einen Bogen zu Gomperz' damaligem Forschungsprojekt, der Rekonstruktion des Werks eines antiken Philosophen aus Papyrus-Fragmenten, und zu Mill's Erfahrungsphilosophie, deren Anhänger er war. – In ihrer Arbeit über Pierre Janet als Historiker erschließt Esther Fischer-Homberger einen ganzen intellektuellen Kontinent, der bisher – z. T. aus sprachlichen Gründen, weil Janets oft voluminöse Schriften fast nur auf Französisch vorliegen – zu wenig wahrgenommen wird. Sie würdigt den einst berühmten Autor als Denker von zuweilen überraschender Modernität: seine Offenheit für die Erkenntnisse von Vorgängern und Zeitgenossen, seine Einsicht in die Verschränkung zwischen Beobachtungen und zeitbedingten Erwartungen der Beobachter, seine Definition von Theorien und Konzepten als "Erfindung" und von wissenschaftlichen Aussagen als Narration oder sein Interesse an der Psychologie des Glaubens. – Andrea Huppke stellt das Leben und Werk von Marjorie Brierley vor, die ihr als Vertreterin einer vermittelnden, nur der Wissenschaft verpflichteten Position zwischen den Parteien von M. Klein und A. Freud in den Londoner Controversial Discussions der 1940er Jahre imponiert. In einer Reihe von späten Aufsätzen entwickelte Brierley anspruchsvolle theoretische Ideen ("Metapsychologie als Prozesstheorie") und einen "neo-realistischen Humanismus".

In der Abteilung der freien Beiträge befasst sich Roman Krivanek mit der von Anna Freud gegründeten Wiener Jackson-Krippe (1937/38). Anhand der erhaltenen Monatsprotokolle beschreibt er die dortige Arbeit und zeigt, wie eng die Praxis und Forschung in den späteren Hampstead War Nurseries daran anknüpfte, etwa im Umgang mit kindlichen Ess-Störungen oder in der theoretisch unvoreingenommenen Beobachtung von realem Verhalten. – Dazu passend dokumentiert Thomas Aichhorn einen Fall von 1922, in dem ein Jugendlicher auf seinen gewalttätigen Vater geschossen hatte. Da es sich um den Sohn einer "Milchschwester" seiner Tochter Mathilde handelte, setzte sich Freud für den jungen Delinquenten ein und bestellte einen Anwalt, der ihn vor Gericht verteidigte.

Rémy Amouroux und Hanna Stouten erzählen z. T. anhand bisher unbekannter Quellen die Geschichte von Marie Bonapartes gynäkologischen Operationen, die so schlecht mit der psychoanalytischen Identität zusammenzustimmen scheinen, die sie in der gleichen Zeit durch ihre Analyse bei Freud erwarb. – Ludger M. Hermanns, Michael Schröter und Harry Stroeken berichten über Leben und Werk von Max Levy-Suhl, einem der großen Berliner Psychotherapeuten der 1920er Jahre, bekannt als Hypnose-Experte und Autor eines Lehrbuchs der Psychotherapie, der nach 1930 eine veritable "Bekehrung" zur Psychoanalyse erlebte und der DPG beitrat. Er emigrierte 1933 in die Niederlande, wo er, nachdem er den Krieg und die NS-Besatzung überlebt hatte, durch Suizid starb.

In einer knappen Skizze behandelt Gerd Koenen eine Aufzeichnung von Alfons Paquet, dem Sekretär des Goethepreis-Kuratoriums, über seinen Besuch bei Freud. – Friedrich-Wilhelm Eickhoff würdigt die Gedenkschrift für Gerhard Fichtner. – Georg László Kruppa berichtet von einer Budapester Tagung zur Hundertjahrfeier der ungarischen IPV-Gruppe.

Von Roman Krivanek liegt eine neue Liste von rezenten Zeitschriftenaufsätzen zur Geschichte der Psychoanalyse vor, die LUZIFER-AMOR schon seit Herbst 2013 als Download anbietet. Wir bemühen uns weiter darum, jemanden zu finden, die oder der in gleicher Weise die jährliche englischsprachige Produktion bearbeiten könnte.

Michael Schröter