Heft 57 (29. Jg. 2016): Heinz Kohut - Biographie und Rezeption

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Editorial (S. 5-6)  

Der aus Wien nach Chicago emigrierte Heinz Kohut war in den 1960er Jahren Präsident der Amerikanischen und Vize-Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. Sachlich und persönlich mit Analytikern wie K. R. Eissler, Anna Freud und Heinz Hartmann verbunden, wurde er von vielen als kommender Präsident der IPV und als intellektueller Führer der modernen Psychoanalyse, als „Mr. Psychoanalysis”, angesehen. Das änderte sich radikal, als bekannt wurde, dass er sich von der orthodoxen Auffassung von Psychoanalyse abgewandt und eine eigenständige „Selbstpsychologie” entwickelt hatte. Seine Ideen wurden bekanntlich von den meisten Kollegen seiner Generation heftig abgelehnt; Nachfolger fand er eher bei jüngeren Psychoanalytikern und bei psychoanalytisch orientierten Psychotherapeuten. Mittlerweile hat sich die „Selbstpsychologie“ als eine Richtung etabliert, die sich weltweit in eigenen Vereinen organisiert, Zeitschriften herausgibt und internationale Konferenzen abhält. Im Themenschwerpunkt des vorliegenden Hefts wird einerseits Kohuts Biographie beleuchtet, insbesondere im Blick auf seine Wiener Herkunft, und andererseits die Rezeption seines Werks untersucht, insbesondere im deutschsprachigen Raum.

Den Anfang macht sein Sohn, der Historiker Thomas Kohut, der in einer persönlichen Betrachtung hervorhebt, wie Kohut an die Stadt seiner Herkunft gebunden blieb: „Mein Vater war kein Jude, sondern Wiener.“ Die Verbindung zu Wien wurde wiederbelebt durch den Briefwechsel, den Kohut von 1946 bis 1949 mit seinem Analytiker August Aichhorn führte; Thomas Aichhorn und Michael Schröter legen die relevanten Passagen daraus vor. In einer Vorbemerkung stellt Thomas Aichhorn zum einen den ersten Analytiker Kohuts, Walter Marseille, vor und zum anderen seinen „inoffiziellen“ Kontrollanalytiker in Chicago, Paul Kramer, der ebenfalls ein Analysand Aichhorns war. Der Briefwechsel wirft die Frage auf, inwieweit Kohuts „Selbstpsychologie“ von August Aichhorn beeinflusst gewesen sein mag. Nicht zuletzt beleuchtet er Kohuts Ausbildung am Chicagoer psychoanalytischen Institut und die Verhältnisse dort.

Wolfgang Milch beschreibt, untermauert durch Aussagen von Zeitzeugen, wie Kohuts Ansatz in Deutschland zunächst von vielen Analytikern als innovativ und befreiend erlebt wurde und wie sich viele von ihm wieder abwandten, als seine Abkehr von der Mainstream-Psychoanalyse hervortrat. Er gibt auch Hinweise auf die eigenen Organisationen der Kohut-Anhänger, speziell, aber nicht nur im deutschsprachigen Raum. Einer der wortmächtigsten Fürsprecher Kohuts in diesem Raum war Fritz Morgenthaler, dem Dagmar Herzog eine eigene Betrachtung widmet. Sie zeigt, wie Morgenthaler mit Hilfe von Kohut dahin gelangte, eine nicht auf normative Vorstellungen von heterosexueller Genitalität fixierte Sexualtheorie zu vertreten. Zugleich zeichnet sie anhand der Korrespondenz Kohut–Morgenthaler die Spannung nach, die dadurch entstand, dass Morgenthaler die Ansichten Kohuts kritisch rezipierte.

In der Abteilung der freien Forschungsbeiträge macht Ulrike May auf eine wenig bekannte Phase der frühen Freud-Rezeption aufmerksam, zentriert um Jena und den dortigen Ordinarius für Psychiatrie, Otto Binswanger, der selbst die kathartische Therapie von Freud-Breuer erprobte und dessen Schüler Wolfgang Warda als erster ausgiebige Erfahrungen damit publizierte. Warda und sein Kollege Wilhelm Strohmayer schlossen sich zunächst der Freud-Schule an, trennten sich aber von ihr im selben Moment (1911), als klar wurde, dass die Psychoanalyse nicht den Normen der akademisch-wissenschaftlichen Medizin folgen wollte. May vermutet, dass das kein Zufall war, und hebt als springende Punkte in dem Prozess die Entwicklung der psychoanalytischen Technik zur Deutungskunst und die Einführung der Übertragung hervor. Ebenfalls von Thüringen gehen zwei Beiträge von Stephan von Minden und Reinhard Lampe aus, die zwei bisher ganz schattenhafte Teilnehmer am psychoanalytischen Kongress in Weimar vorstellen: die Münchener Ärzte Arthur Ludwig und Ernst Rehm. Die Texte vermitteln ebenfalls eine Vorstellung von dem breiten Spektrum von Professionals, die sich Freud vor der Konsolidierung seiner Schule zuwandten.

Eine Kontroverse zwischen Ferdinand Scherrer und Anneliese Menninger bezieht sich auf einen in einer früheren Ausgabe von LUZIFER-AMOR erschienenen Aufsatz, in dem Menninger der These von Scherrer entgegentrat, dass Freud nicht der Autor des Aphasie-Artikels im Handwörterbuch der Medizin von Villaret gewesen sei. Scherrer verteidigt seine These; Menninger ihren Widerspruch.

Abschließend sei auf zwei Änderungen im Impressum der Zeitschrift hingewiesen: Die eine blickt in die Vergangenheit und würdigt die Bedeutung von Gerd Kimmerle als Begründer von LUZIFER-AMOR; die andere blickt insofern in die Zukunft, als durch die Aufnahme von Rainer Herrn in den Beirat versucht wird, die Verbindung der Zeitschrift zum Berliner Institut für Geschichte der Medizin zu verstärken.

Michael Schröter