Heft 43 (22. Jg. 2009): Kurt R. Eissler II – Wirken und Wirkung

« Zurück

Editorial (S. 5–7)


Das Herbstheft 2007 von LUZIFER-AMOR (Nr. 40) mit dem Themenschwerpunkt "Kurt R. Eissler" hat eine so breite und positive Resonanz erfahren wie kein anderes Heft der letzten Jahre. Eine Form der Resonanz bestand im Angebot neuer einschlägiger Beiträge. Es lag daher nahe, ein zweites Heft zum selben Schwerpunkt zu planen. Dank dem Entgegenkommen von Emanuel E. Garcia, Eisslers Nachlassverwalter, konnte der Plan verwirklicht werden. Die sachliche Berechtigung einer solchen Akzentsetzung ergibt sich aus der Tatsache, dass Eissler für die Erforschung der Geschichte der Psychoanalyse im Allgemeinen und der Biographie Freuds im Besonderen mehr geleistet hat als jeder andere. Dies vor allem durch seine uneigennützige Sammeltätigkeit beim Aufbau des Sigmund-Freud-Archivs in der Library of Congress (Washington). Während im ersten Eissler-Heft von LUZIFER-AMOR sein Leben im Vordergrund stand, geht es jetzt vor allem um diese Seite seines Wirkens, einschließlich der damit verbundenen Kontroversen.

Einleitend zeichnet Hans Erich Troje, aus Anlass von Eisslers 100. Geburtstag, ein eindringliches Porträt des verehrten Mannes, gestützt auf über 300 Briefe, die er ab 1974 von ihm empfing. Er bietet einen biographischen Abriss, streift private Themen seines Austauschs mit ihm sowie manche der Auseinandersetzungen, in die sich Eissler mit Leidenschaft stürzte, und berichtet von dessen letztem, posthum erschienenen Werk über "Freud und die Verführungstheorie". Was aus Trojes Skizze besonders hervortritt, ist die fast ängstliche Bescheidenheit des Mannes, der auf viele, die ihm begegnet sind, den Eindruck von "Größe" machte. In einem zweiten persönlichen Beitrag erinnert Friedrich-Wilhelm Eickhoff an die zahlreichen Publikationen Eisslers im Jahrbuch der Psychoanalyse, von einem jener charakteristischen Texte, die den Geniebegriff für Freud reklamieren, über die intensive Diskussion der Freud-Jung-Korrespondenz bis zu einem Aufsatz über die Anfänge der psychoanalytischen Technik. Nebenbei erfährt man, dass nicht wenige der soliden, quellennahen Arbeiten zur Psychoanalysegeschichte, die das Profil des Jahrbuchs mitgeprägt haben, von Eissler vermittelt worden sind.

Um das Freud-Archiv kreisen drei Beiträge. Gerhard Fichtner geht auf dessen Vorgeschichte, Gründung und Anfangszeit ein. Seine Basis sind die zugänglichen Teile des Briefwechsels zwischen Eissler und Anna Freud sowie ein (komplett abgedruckter) Tätigkeitsbericht des Archivs von 1969. Abschließend erörtert er die Problematik von Eisslers Weigerung, das von ihm gesicherte Material sogleich der Forschung zur Verfügung zu stellen. Fichtner betont, dass diese restriktive Haltung letztlich der Rücksicht auf Anna Freud geschuldet und eine Bedingung für das Zustandekommen des Archivs war, das nun schon seit Jahren das Mekka der Freud-Forschung ist. Seine Abhandlung wird ergänzt durch ein Eissler-Interview von 1992, das Michael Schröter zusammenfasst. Eissler erzählt darin aus seiner Sicht von den Kämpfen, die er in den 1970-80er Jahren mit Autoren wie Roazen und Masson ausgefochten hat, und von seiner Verdrängung aus der Leitung des Archivs. Mit Nachdruck verteidigt er seine Politik der Sperrung von Archivmaterial bzw. der beschränkten Freigabe für die Edition vollständiger Briefwechsel und verwahrt sich gegen den Vorwurf, er habe das gesperrte Material für seine eigene Forschung verwendet. Ein Beispiel für die (aufgezeichneten und dann transkribierten) Gespräche, die Eissler im Auftrag des Archivs mit Leuten führte, die Freud noch gekannt hatten, ist sein Interview mit Joan Riviere. Es wird von Nina Bakman vorgestellt – aufgrund weiterbestehender Restriktionen des Freud-Archivs nicht im wörtlichen Zitat, sondern im indirekten Referat. Sachliche Schwerpunkte sind die Debatten um Anna Freud von 1927, in die Riviere verwickelt war, und ihre eigene Analyse bei Freud, in der sie sich vernachlässigt fühlte, weil  Freud mehr an ihrer Arbeit als Übersetzerin seiner Schriften denn an ihr als Person interessiert war. Als die Frage der Vertraulichkeit ihrer Äußerungen aufkommt, zeigt sich, dass Eissler darauf größeren Wert legt als sie selbst.

In Deutschland wurde Eissler vor allem durch sein Goethe-Buch bekannt. So gut wie unbemerkt blieb, dass dieses Werk präludiert wurde durch eine Studie über Eckermann von 1953. Sie wird im Folgenden erstmals auf Deutsch vorgelegt. Eissler arbeitet darin heraus, dass es Fälle gibt, in denen der Masochismus (als Charaktereigenschaft) nicht die Kreativität lähmt, sondern geradezu eine Bedingung der Kreativität ist. Man wird hinter dieser These, die an Eckermann und seinem Verhältnis zu Goethe im reichen empirischen Detail und mit großer psychoanalytischer Intensität durchgespielt wird, auch selbstanalytische Erkenntnisse des Autors über sein Verhältnis zu Freud vermuten dürfen.

Im thematisch ungebundenen Teil des Hefts behandelt Isabelle Noth die Beziehung von Albert Schweitzer zur Psychoanalyse, die er durch Oskar Pfister kennenlernte. Nach einer Darstellung der biographischen Zusammenhänge hebt Noth drei Punkte hervor, die diese überraschend positive Beziehung begründet haben könnten: die Einsicht in die subjektive Bedingtheit des Denkens, der historische Ansatz und die Ablehnung von Illusionen. Maren Holmes schließlich beschreibt und dokumentiert den unorthodoxen Lebenslauf von Gertrud Jacobs, Nervenärztin in Hamburg, die mit Unterstützung von Max Eitingon nach der Emigration in die USA als IPV-Analytikerin akzeptiert wurde, obwohl sie nie eine reguläre Ausbildung durchgemacht hatte.

Das vorliegende Heft von LUZIFER-AMOR präsentiert sich in verändertem Gewand. Im neuen Erscheinungsbild spiegelt sich die Tatsache, dass der bisherige Verlag der Zeitschrift, edition diskord, von dem Frankfurter Haus Brandes & Apsel übernommen wurde und sein Programm künftig unter dessen Dach weiterführt. Dies ist der Moment, die überaus schätzens- und dankenswerte Arbeit von Gerd Kimmerle hervorzuheben, der LUZIFER-AMOR 1988 begründet und in wechselnden Konstellationen bis 2003 als ein Identitätszeichen seines Verlags (mit-)herausgegeben hat. Dass die psychoanalysehistorische Forschung im deutschsprachigen Bereich heute, wenn nicht alles trügt, besser dasteht und gedeiht als in anderen Ländern, beruht in hohem Maße auf seinem persönlichen Engagement als Herausgeber und Verleger. Der neue Verleger, Roland Apsel, hat erfreulicherweise erklärt, dass er dieses Engagement fortsetzen will. Die inhaltliche Arbeit der Zeitschrift geht somit unverändert weiter.

Herr Kimmerle ist im Zusammenhang seines Rückzugs als selbständiger Verleger auch aus dem Beirat von LUZIFER-AMOR ausgetreten. Da außerdem Ernst Falzeder auf eigenen Wunsch und Lydia Marinelli durch Tod ausgeschieden sind, wurden zwei neue Beirats-Mitglieder gewonnen, die den Lesern der Zeitschrift keine Unbekannten sind: Michael Giefer (Bad Homburg) und Herbert Will (München). Beide werden mithelfen, die Zeitschrift auf dem höchsterreichbaren Niveau zu halten.