Heft 67 (34. Jg. 2021) I: 50 Jahre Psychiatrie-Enquete II: Freud und der Energieerhaltungssatz

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Editorial (S. 5-6)

Das vorliegende Heft von LUZIFER-AMOR ist zwei sehr unterschiedlichen Themenschwerpunkten gewidmet: einerseits der Reformierung der Versorgung von und des Umgangs mit psychisch Kranken in der jüngeren (west-)deutschen Vergangenheit, andererseits einer rezeptionsgeschichtlichen Fragestellung in Freuds Theoriebildung.

Die prekäre Situation psychisch Kranker und die teils katastrophalen Zustände in den psychiatrischen Großkliniken der Bundesrepublik blieben bis in die späten 1960er Jahre nicht zuletzt aufgrund der Nachwirkungen des menschenverachtenden Umgangs mit diesem Patientenkreis in der NS-Zeit ein im Bewusstsein der Öffentlichkeit ausgeblendetes Thema. Erst eine 1970 einsetzende Debatte im Deutschen Bundestag führte im Folgejahr zur Inauguration eines Expertengremiums, das eine Enquete erarbeitete als Grundlage für eingreifende Veränderungen. Das 50. Jubiläum des Beginns der Arbeit an dieser Psychiatrie-Enquete nehmen wir zum Anlass, ihr Zustandekommen, ihre Entwicklung und Ausgestaltung ebenso in den Blick zu nehmen wie die Rolle einzelner mitwirkender Akteur*innen im Feld konkurrierender Stimmen, die Erinnerung von Zeitzeugen an jene lebhaften Debatten und nicht zuletzt die langfristigen Auswirkungen auf die Versorgung psychisch Kranker und ihre Gleichstellung mit physisch Kranken, die bis in die Gegenwart reichen.

Steffen Dörres einleitender Beitrag fokussiert die berufspolitischen Aushandlungsprozesse und interessengeleiteten Verteilungskämpfe zwischen den verschiedenen Berufsgruppen innerhalb der Enquete-Kommission über die longue durée vom Beginn bis zum Schlussbericht auf der Basis bislang unbekanntem Archivmaterials. Sein besonderer Akzent liegt dabei auf dem energischen Engagement von Vertretern der Psychoanalyse, vor allem von Horst-Eberhard Richter, aufgrund dessen auch der außerpsychiatrische Versorgungsbereich der Psychotherapie und psychosomatischen Medizin in die Enquete-Arbeit einbezogen wurde. ? Simon Duckheim wirft einen kritischen Blick auf das Therapieverständnis, insbesondere die Auffassung von der Therapiedauer, der Psychoanalytikerin Annemarie Dührssen in den 1950er und 60er Jahren. Dieses trug nicht nur zur Aufnahme der Psychoanalyse in die kassenärztliche Versorgung bei, sondern war auch in der Enquete- Diskussion von Bedeutung und blieb jahrzehntelang für die psychoanalytische Praxis bestimmend. ? Felicitas Söhner widmet sich den Erinnerungen von Zeitzeugen an Personen, Themen und mediale Diskurse im Umfeld der Psychiatrie-Enquete auf der Grundlage leitfadengestützter Interviews. ? Ralf Rosbach beschreibt am Beispiel der Reichenauer Anstaltspsychiatrie detailliert den langsamen, aber kontinuierlichen Prozess der Umsetzung der in der Psychiatrie-Enquete abgegebenen Reform-Empfehlungen im Kontext landes- und lokalpolitischer Verteilungskämpfe. Diese Arbeit wird aus Umfangsgründen als online-Publikation geboten.

Der zweite Themenschwerpunkt geht zurück in die wissenschaftlichen Diskurse des 19. Jahrhunderts und betrifft die Anfänge der psychoanalytischen Theoriebildung Freuds. Andreas Seecks Beitrag, der mit Unterstützung des Gerhard-Fichtner-Stipendium (2018) entstand, spürt den Bezügen, Analogien und Transformationen von Erkenntnissen, Begriffen, Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten aus der Physik in Freuds Theoriegebäude nach. Die Physik war mehr noch als die Biologie durch ihr abgesichertes Wissen eine Leitdisziplin der Medizin, insbesondere der Wahrnehmungs- und Sinnesphysiologie im 19. Jahrhundert. Seeck geht es in seiner Untersuchung nicht um eine simple Linearität der Rezeption, um ein Ausborgen und Übernehmen von Wissensbeständen, sondern um deren Verarbeitung, Umgestaltung und Applikation. Dabei verfolgt er Freuds Lektüre der Schriften dreier maßgeblicher Physiker: James Maxwell, Hermann v. Helmholtz und Gustav Theodor Fechner, wie er sie im Laufe seines Studiums, insbesondere bei Franz Brentano, und danach kennen und schätzen lernte. Zudem identifiziert Seeck exemplarisch Stellen in Freuds Schriften, an denen diese Bezüge besonders deutlich hervortreten. Im Zentrum seiner Betrachtungen steht der Energiebegriff bzw. der Energieerhaltungssatz von Helmholtz. Zwar liegen bereits eine Reihe von Arbeiten vor, in denen diesen Bezügen nachgegangen wird, doch bleiben sie meist der begrifflichen bzw. metaphorischen Ebene verhaftet. Bei einer Vertiefung in die Substanz der physikalischen Theoriebildung ergibt sich beispielsweise, dass der Satz von der Erhaltung der Energie (Helmholtz) mit dem Konstanzprinzip (Fechner) trotz einer gewissen äußerlichen Ähnlichkeit nichts zu tun hat. Abschließend lotet Seeck die Frage aus, inwiefern jene begrifflich auf der Hand liegende Rezeption physikalischer Denkmodelle in der Psychoanalyse tatsächlich inhaltlich tragfähig ist.

In der Rubrik »Aus der Forschung« stellen Christine Diercks und Arkadi Blatow die Wiener digitale »historisch-kritische Sigmund Freud Edition« vor. Das vollständige Werk- und Briefverzeichnis stützt sich zwar auf seine klassischen Vorläufer, geht aber bei der Erfassung neue Wege, indem alle Manifestationen eines Werkes berücksichtigt werden sollen. Das wird in dem Beitrag an Beispielen demonstriert.

Rezensionen und Buchanzeigen beschließen das Heft.

Rainer Herrn