Heft 73 (37. Jg. 2024): Harald Schultz-Hencke
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Editorial (S. 5-8)
Dass Harald Schultz-Hencke (1892–1953) 20 bis 25 Jahre lang eine Hauptfigur der Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland war, steht außer Frage. Eine der beiden psychoanalytischen Gruppen, die es in der jungen Bundesrepublik nach der Abspaltung der DPV von der DPG gab, die ältere DPG, stellte sich in ihrer theoretischen und klinischen Ausrichtung jahrzehntelang mehr oder weniger in die Tradition seiner „Neopsychoanalyse“, die er dezidiert als eine Weiterentwicklung der Freud’schen Psychoanalyse verstanden hatte. Obwohl es in den letzten 30 Jahren im Zuge der Wiederannährung der DPG an die IPV, die mit einer Abkehr von Schultz-Hencke verbunden war, ruhig um ihn wurde, sollte man meinen, dass es nichts weniger als angemessen ist, wenn eine historiografische Zeitschrift wie LUZIFER-AMOR ihm einen Themenschwerpunkt widmet.
Die Durchführung dieses Plans stieß jedoch auf Schwierigkeiten, die in der jüngeren Geschichte der Zeitschrift ohne Parallele sind. Drei Beiträge, die an sich zugesagt waren, wurden im Vorfeld aus mehr oder weniger expliziten Vereinsrücksichten wieder zurückgezogen, darunter einer zum Thema „Abschied (der DPG) von Schultz-Hencke“. Offenbar ist Schultz-Hencke immer noch eine Figur, an der sich in Deutschland die Geister scheiden; die Affekte aus der Spaltungsgeschichte von 1949/50 und aus den Abgrenzungskämpfen, die danach zwischen den Gruppen ausgefochten wurden, scheinen bis heute nachzuzittern (von anderen, aktuellen Anlässen zu schweigen). Dass das Heft schließlich doch zustande kam, ist nicht zuletzt das Verdienst von Steffen Theilemann, der sich seit Jahrzehnten der Erforschung der Biografie von Schultz-Hencke verschrieben hat (als neue Frucht dieser Arbeit soll im Sommer 2024 ein Buch von ihm über „Harald Schultz-Hencke: als Psychoanalytiker im Nationalsozialismus“ erscheinen). Er hat nicht nur zwei eigene Mitteilungen aus seinem reichen Materialfundus beigesteuert, sondern auch bei der weiteren Akquisition von Texten mitgeholfen. So kann LUZIFER-AMOR dazu beitragen, einen in Vergessenheit geratenen Hauptakteur der Psychoanalysegeschichte im „Dritten Reich“ und in der werdenden Bundesrepublik wieder in Erinnerung zu rufen und nicht zuletzt das historische Unrecht zu korrigieren, das ihm widerfahren ist, insofern er viele Jahre lang ohne ausreichende Faktengrundlage in die Nähe des Nationalsozialismus gerückt wurde.
Der erste Beitrag von Steffen Theilemann bringt eine veritable Sensation. Es war seit langem bekannt, dass Freud 1929 einen gewichtigen Brief an Schultz-Hencke geschrieben hatte, in dem er zu dessen Neuerungen Stellung bezog. Aber der Brief galt als verschollen. Theilemann ist es mit detektivischer Energie gelungen, eine Kopie aufzufinden. Freud äußert sich in dem Brief über bestimmte Aspekte der analytischen Technik, die Schultz-Hencke in einem eigens für ihn verfassten Papier vorgeschlagen hatte; er lehnt sie alle ab. – Es folgt ein Auszug aus Schultz-Henckes (nur lückenhaft erhaltenem) Tagebuch, ebenfalls herausgegeben von Theilemann. Die Wahl des Zeitraums, erstes Halbjahr 1938, war primär durch die Materiallage bedingt, insofern Anfang 1938 eine längere Zeitstrecke beginnt, in der Tagebücher vorliegen. Aber es traf sich glücklich, dass dies auch Monate waren, in denen in der Geschichte der DPG wichtige Weichenstellungen erfolgten. Ein Hauptreiz der Notizen besteht im Übrigen darin, dass der Schreiber in ihnen als Person lebendig wird. – Michael Schröter befasst sich, unter Verwendung ausgiebiger Quellenzitate, mit den Auseinandersetzungen um Schultz-Henckes Vermächtnis in den 1960er-Jahren, konzentriert auf zwei Schwerpunkte: die gründliche Kritik an der Neopsychoanalyse, die Helmut Thomä 1963 veröffentlichte und zu der zwei Stellungnahmen von DPV-Kolleg/innen erhalten sind, und eine briefliche Kontroverse zwischen Tobias Brocher (DPV) und Werner Schwidder (DPG) um die Frage, ob die Neopsychoanalyse als Psychoanalyse gelten könne. – Werner Köpp erörtert die Frage, wieweit Schultz-Hencke’sche Annahmen für die gegenwärtige Psychosomatik relevant sein könnten. Er bejaht sie insbesondere in Bezug auf das Intentionalitätskonzept, in dem er Parallelen zu modernen Embodiment-Theorien findet. – Der Beitrag von Tilo Naatz ist im Grunde selbst ein historisches Dokument. Er entstand vor etwa zwölf Jahren im Zusammenhang einer Berliner Diskussion um die Neu-Orientierung der DPG-Gruppe und verteidigt, auf verlorenem Posten, die von Schultz-Hencke herrührende wissenschaftlich-rationale Ausrichtung gegenüber einer in der IPV um sich greifenden Tendenz zu spekulativen Deutungen.
Die Rubrik „Aus der Forschung“ wird eröffnet mit einer langen, intensiven Abhandlung von Johann Georg Reicheneder über die Konstruktion des Sprachapparats in Freuds Aphasieschrift von 1891. Reicheneder zeigt, dass die neurologischen Überlegungen, die darin vorgestellt werden, der Widerspruch gegen ein rein topographisches Gehirnmodell, mindestens bis ins Jahr 1885 zurückreichen. Er arbeitet einige Entwickungslinien heraus, die von ihnen zur späteren Psychoanalyse führen (z. B. im Assoziationsbegriff), betont die methodische Besonderheit, dass Freud sich auf die Selbstbeobachtung beim Prozess des Spracherwerbs stützt, und hebt die Rolle eines Objekts in diesem Prozess hervor. – Georg Augusta versammelt die erstaunlich zahlreichen Zeugnisse, die wir über die Tätigkeit der Wiener Mittwoch-Gesellschaft in den Jahren vor dem Einsetzen der bekannten „Protokolle“, also von Ende 1902 bis Sommer 1906, haben. Deutlich wird die herausragende Rolle, die Wilhelm Stekel, auch bei der Anwerbung neuer Mitglieder, für die Gruppe spielte. Von klinischen Themen ist in der betrachteten Zeit wenig zu sehen. Man erkennt hingegen eine ausgeprägte Vernetzung mit der Wiener literarischen Szene. – Den Briefwechsel zwischen Freud und Emma Jung, der Frau von C. G. Jung, stellen Thomas Fischer und Christfried Tögel vor. Bisher waren nur die Briefe von Emma Jung bekannt; sie können jetzt durch die neu aufgefundenen Briefe Freuds ergänzt werden. Themen sind der Nürnberger Kongress (1910) und die beginnende Entfremdung zwischen Freud und Jung (1911). In den Briefen der zweiten Tranche äußert sich Freud mit ungewöhnlicher Freimütigkeit auch über Details seines Familienlebens. Emma Jung gewinnt in dem Material das Profil einer klugen, intellektuell ambitionierten Frau.
Das Heft wird wie üblich von Rezensionen und Anzeigen beschlossen.
Michael Schröter