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Editorial (S. 5–6)

Vor einem Jahr erschien das erste Heft von LUZIFER-AMOR (Nr. 68) zur Geschichte der Psychoanalyse in der Tschechoslowakei. Schwerpunkt war das Geschehen bis zum Zweiten Weltkrieg und das Wirken der beiden Psychoanalytiker Theodor Dosužkov und Otakar Kucera. Im vorliegenden, zweiten Heft richtet sich das Augenmerk vor allem auf die Nachkriegszeit und die Aktivitäten im Untergrund während der sowjetischen Herrschaft sowie der vorübergehenden politischen Lockerungen Ende der 1960er-Jahre.

Die ersten drei Artikel greifen noch einmal auf die Vorkriegszeit zurück: Georg Augusta beschreibt das Wirken des Wiener Psychiaters Otto Pötzl an der deutschsprachigen Prager Karls-Universität in den Jahren 1922 bis 1928. Seine einführenden Vorlesungen in die Psychoanalyse stellten für einzelne Medizinstudenten eine initiale Begegnung mit der psychoanalytischen Theorie dar. In die Zeit der Prager Arbeitsgruppe führt der Beitrag von Thomas Aichhorn über August Aichhorns Vortrag in Prag 1936, der dort einer von zahlreichen Gastvorträgen der Wiener Analytiker in jener Zeit war. Das Schicksal von Jan Frank, dem slowakischen Psychiater und Psychoanalytiker, der in der Prager Arbeitsgemeinschaft seine psychoanalytische Ausbildung absolvierte und 1939 nach England und weiter in die USA flüchten konnte, schildert Michael Šebek. In einem Artikel von 1947, der für das Jahrbuch der Gesellschaft für das Studium der Psychoanalyse in Prag von Theodor Dosužkov verfasst wurde, wird das Schicksal der Mitglieder der Prager Arbeitsgruppe nach 1938 beschrieben sowie über die psychoanalytischen Seminare, die Dosužkov während der Kriegszeit abhielt, berichtet. Die Bemühungen von Dosužkov, nach dem Krieg den Anschluss an die internationale Bewegung wieder herzustellen, dokumentieren zwei Briefwechsel, die er mit Otto Fenichel und August Aichhorn führte. Ersterer wird von Elke Mühlleitner kommentiert, der zweite von Thomas Aichhorn.

Ladislav Haas war nach Theodor Dosužkov und Otakar Kucera der dritte von der IPV anerkannte Lehranalytiker in Prag. Eduard Rys erforscht dessen Lebensgeschichte von seiner ursprünglichen Mitgliedschaft in der tschechoslowakischen KP über seine Emigration nach England während des Krieges, seiner zeitweiligen Inhaftierung als linker Psychoanalytiker nach der stalinistischen Machtübernahme 1948, seiner Tätigkeit als Lehranalytiker im Untergrund und die erneute Emigration 1965 nach England, wo er Mitglied der British Psychoanalytic Society wurde. Roman Telerovský befasst sich mit dem Wirken von Zbynek Havlícek als Dichter und Psychoanalytiker und beleuchtet dabei die teilweise enge Verbindung zwischen Psychoanalyse und Surrealismus in der Tschechoslowakei während der 1950er- und 1960er-Jahre. Havlícek widmete sich vor allem der schizophrenen Welt der Poesie, der Verbindung von Lyrik und Psychoanalyse sowie den regressiven Zuständen in der Analyse unter LSD-Gabe. Dem Begründer der  »Integrativen Psychotherapie« und der »Therapeutischen Gemeinschaft« in Lobec und Horní Palata, Ferdinand Knobloch, widmet Hynek Forman seinen Beitrag. Knobloch, Psychiater und Analytiker, welcher der klassischen Psychoanalyse ambivalent gegenüber stand, konnte seine Einrichtungen während der totalitären Zeit betreiben, wurde geduldet und bot damit zahlreichen Kollegen die Möglichkeit für psychoanalytische Selbsterfahrung und Lehranalysen. Anhand der Tätigkeiten seines Schülers und Nachfolgers in der Leitung der Psychotherapeutischen Gemeinschaft, Zdenek Mrázek, und Knoblochs langjähriger Mitarbeiterin Hana Junová erforscht Jirí Jakubu die psychoanalytische und psychotherapeutische Bewegung während der Lockerungen in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre und der anschließenden »Normalisierungszeit«. Beide haben die Entwicklung einer dynamischen Psychotherapie in der Tschechoslowakei stark geprägt.

In der Rubrik »Aus der Forschung« finden sich drei Aufsätze. Jean-Daniel Sauvant präsentiert als Ergänzung seines Artikels »Freud übersetzt Charcot« aus dem vorigen Heft von LUZIFER-AMOR hier nun eine deutsche Übersetzung der Briefe Charcots an Freud (1888–1893). Das Kassa-Buch 1896–1899, das sich in den Freud-Archives in Washington befindet und bisher Freud zugeschrieben wurde, unterzieht Richard Skues einer eingehenden Untersuchung und kommt zu dem Ergebnis, dass es sich um eine plumpe Fälschung handelt. Mögliche Gründe für die Aufnahme des Dokuments in das Freud-Archiv werden ebenso erörtert wie die Frage, warum die Fälschung von der Freud-Forschung so lange unentdeckt geblieben ist. Christiane Ludwig-Körner geht den Spuren der Familie Bardas nach. Fanny Bardas war Ende der 1890er-Jahre bei Freud in Behandlung gewesen, gleichzeitig war sie wie ihr Sohn Willy, ein bekannter Pianist, mit der Freud-Familie befreundet. Dessen Tochter Marianne arbeitete nach ihrer Flucht 1938 kurze Zeit als Haushaltshilfe in der Hampstead War Nursery, die Anna Freud leitete.

In der Rubrik »Kleine Mitteilungen« informiert Katarzyna Swita über das 35. Symposion zur Geschichte der Psychoanalyse, das wegen der Coronapandemie erneut per Zoom abgehalten werden musste. Martina Harather stellt das Adressbuch von Otto Fenichel vor, welches sie digital erfasst hat, und das bereits online auf der Webseite von LUZIFER-AMOR abrufbar ist.

Rezensionen und Literaturanzeigen beschließen dieses Heft.

Michael Giefer