Heft 71 (36. Jg. 2023): Briefwechsel Sigmund Freud – Ernst Simmel 1918–1939

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Editorial (S. 5–6)

Ernst Simmel (1882–1947), dessen Briefwechsel mit Sigmund Freud den Themenschwerpunkt dieses Heftes darstellt, war ein deutsch-amerikanischer Psychoanalytiker der zweiten Generation. Durch seine Verwendung einer modifizierten Kurzpsychoanalyse in einem Lazarett im Ersten Weltkrieg und seine Publikation darüber kam er in Kontakt mit Freud und Abraham und zur Berliner Ortsgruppe der IPV. 1926 bis 1930 war er als Nachfolger Karl Abrahams Vorsitzender der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG). Er ist heute noch bekannt als Gründer der ersten Psychoanalytischen Klinik in Tegel, in dessen Ärztehaus Freud bei seinen Berlin-Aufenthalten zwischen 1928 und 1930 zur Korrektur seiner Kiefer-Prothese mehrfach Unterkunft fand. Die dadurch vertiefte Beziehung führte zu einem sporadischen Briefwechsel, der nach Simmels Emigration nach Kalifornien fortgeführt wurde. Freud korrigierte das Manuskript einer von Simmel an der University of Southern California 1938 abgehaltenen Vorlesungsreihe Fundamental Principles of Psychoanalysis. Im Heft wird der erhaltene Briefwechsel wiedergegeben und annotiert, gefolgt von Freuds Vorlesungskorrekturen. Im Anschluss wird von Ludger M. Hermanns, dem Herausgeber, Simmels Beziehung zu Freud nachgezeichnet, wie sie sich in den Briefen widerspiegelt.

Die Beiträge »Aus der Forschung« werden von einer Untersuchung von Richard Skues eröffnet, der die Träumerin in Freuds posthum veröffentlichtem Manuskript »Eine erfüllte Traumahnung« (1899) durch akribische Quellenrecherche als Fanny Bardas identifizieren kann. Auf theoriegeschichtlicher Ebene vertritt er die These, dass Freud jenen »Ahnungstraum«, den er auch in der Psychopathologie des Alltagslebens erörterte, immer weniger als ein Traumphänomen, sondern vielmehr als eine Erinnerungsstörung auffasste. Andreas Seeck beschäftigt sich in seinem Beitrag mit Freuds Verwendung der Stenografie und stellt die wichtigsten seiner Funde in Transkription vor. Erwin Kaiser untersucht den Einfluss des Wiener Philosophen Franz von Brentano auf Freuds Denken und hält ihn, im Gegensatz zu einem Strang der Forschungsliteratur, nach mehreren Richtungen hin für nicht erheblich. Jon Kahn und Hans-Joachim Rothe beleuchten Karl Landauers Flucht 1933 nach Stockholm und werten dafür neue Archivfunde aus Schweden und ein Eissler-Interview mit Alfhild Tamm aus. Landauers schließliche Entscheidung zur Emigration nach Holland wird dokumentiert. Michael Rohrwasser geht dem rätselhaften Publikationsschicksal und dem Gehalt des Romans Der Kaiser, die Weisen und der Tod (erstmals erschienen in Wien 1938) der ungarischen Journalistin und Schriftstellerin Rachel Berdach nach. Der nach der Lektüre in seinem Londoner Exil davon faszinierte Freud lädt die Autorin zum Besuch ein. Claudia Frank untersucht die Tätigkeit des englischen Philosophen und Psychoanalytikers Roger Money-Kyrle beim German Personnel Research Branch im Nachkriegsdeutschland und vermag aus seinen dortigen Interviews und Einschätzungen bereits Elemente seines späteren psychoanalytischen Werkes zu destillieren.

In der Rubrik »Kleine Mitteilungen« wendet sich Christfried Tögel dem Kassa-Protokoll zu, das er und andere früher Freud als Autor zugeschrieben hatten. Richard Skues hatte im letzten Heft von LUZIFERAMOR Freuds Autorschaft zurückgewiesen; Tögel schließt sich jetzt dieser Auffassung an. Michael Schröter fördert aus seinem eigenen Archiv briefliche Erinnerungen der Göttinger Juristin und Kriminologin Anne-Eva Brauneck zutage, die vor allem von ihrer Zeit als Analysandin am Göring-Institut handeln. Caroline Neubaur vertieft sich in ihrem Buch-Essay zu dem Buch 365 x Freud. Ein Lesebuch für jeden Tag (2022) in die unterschiedlichen Tageslosungen aus Freuds Werk, die von Berufenen aus Psychoanalyse und Kultur kommentiert werden, und versucht das Sammelwerk in den Zeitgeist einzuordnen. Werner Bohleber widmet sich E. Zaretskys Buch über den politischen Freudianismus und kritisiert dessen Analysen als zu großflächig angelegt.

Buchbesprechungen und Literaturanzeigen beschließen das Heft.

Ludger M. Hermanns