Von den großen Problemen ist noch nichts entschieden. Alles wogt und dämmert, eine intellektuelle Hölle, eine Schicht hinter der anderen; im dunkelsten Kern die Umrisse von LUZIFER-AMOR sichtbar.
Sigmund Freud an Wilhelm Fließ, 10. Juli 1900

Erwin Kaiser
Der Einfluss von Franz von Brentano auf Freuds Denken – eine überschätzte Beziehung (S. 130-145)

Zusammenfassung: Es wird die Literatur zur Beziehung zwischen Freud und dem Philosophen Franz von Brentano dargestellt, in der aus einem kurzen Kontakt zwischen beiden teilweise weitreichende Schlüsse gezogen werden. Einige Autoren behaupten, dass diese Begegnung Folgen für Freuds Einstellung zur Philosophie und für einzelne theoretische Auffassungen gehabt habe, etwa für seine Triebtheorie, für das Konzept des Realitätsprinzips, für sein Konzept von »Introspektion«, bis hin zu der These, dass Freuds Theorie in Gänze auf Brentanos Psychologie aufbaue. Eine genaue Betrachtung der konkreten Begegnung der beiden zeigt jedoch, dass es nur einen sehr engen Bezug gab: die Frage von Theismus vs. Atheismus. Generell kann Brentanos Psychologie nur in eine allerallgemeinste Beziehung zu Freuds Psychologie gebracht werden, und ihre Grundlagen sind so verschieden von Freuds Auffassungen, dass dieselben Worte eine völlig andere Bedeutung bekommen. Die Betrachtung der Entwicklung von Freuds Denken zeigt darüber hinaus, dass er einen empirischen Weg zu seinen Auffassungen geht, während Brentano rein begrifflich arbeitet.

Summary: The influence of Franz von Brentano on Freud’s thinking: an overrated relationship. The literature on the relationship between Freud and the philosopher Franz von Brentano is surveyed in which sometimes far-reaching conclusions are drawn from a brief contact between the two. Some authors claim that this encounter had consequences for Freud’s attitude towards philosophy and for certain theoretical views, f. i. for his drive theory, for the concept of the reality principle, for his concept of »introspection«, up to the thesis that Freud’s theory was entirely based on Brentano’s psychology. However, a close look at the concrete encounter of the two shows that there was only one specific relation, concerning the question of theism vs. atheism. In fact, Brentano’s psychology can only be brought into the most general relationship with Freud’s psychology, and its foundations are so different from Freud’s views that the same words assume a completely different meaning. Moreover, the consideration of the development of Freud’s thought shows that he followed an empirical path to his conceptions, while Brentano worked purely conceptually.