Heft 74 (37. Jg. 2024): VIII. Internationaler Psychoanalytischer Kongress – 100 Jahre danach
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Editorial (S. 5-7)
Die Beiträge des Schwerpunkts in diesem Heft wurden auf der Tagung „1924–2024. Zum VIII. Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Salzburg. 100 Jahre danach“ des Salzburger Arbeitskreises für Psychoanalyse (SAP) am 27. April 2024 vorgetragen und hier leicht modifiziert publiziert. (Zu unserem Bedauern fehlt leider der Vortrag von Christine Diercks zum Thema „Der abwesende Freud und sein Erbe“, da die Autorin aus Zeitmangel keine überarbeitete Version termingerecht einreichen konnte.) Die Tagung war von der Frage geprägt, was 1924 diskutiert wurde und wie wir die damaligen Themen aus heutiger Sicht betrachten. Anders gesagt: Was ist noch state of the art, wohin haben wir uns entwickelt? Dazu haben sich die Referent:innen 2024 einzelne Vorträge von 1924 angesehen und darüber nachgedacht bzw. zentrale Themen des Diskurses in und um die Psychoanalyse aufgegriffen und über den Kontext der Tagung von 1924 hinaus ins Heute eingebettet.
Den Beginn macht Thomas Radauer, der in seinem Beitrag „1924: Was damals in der Luft lag. Eine kleine psychohistorische Einordnung“ versucht, die Institutionalisierungs-geschichte der Psychoanalyse ab 1908, über die Gründung der IPV 1910, die Trennungen von u. a. Adler und Jung, der damit junktimierten Gründung des „Komitees“ und der ab 1922 zunehmenden privaten und fachlichen Distanzierung der Achsen Rank-Ferenczi und Abraham-Jones-Sachs-Eitingon aufzuzeigen. Der Kongress von 1924, der der erste ohne Freuds Präsenz war, hatte so einen Nachfolgekampfcharakter für die Zukunft der Psychoanalyse nach Freuds Tod. Es kam dann beim Kongress 1924 zu einer Konfronta-tion mit überraschend mildem Verlauf. Der folgende Beitrag von Michael Schröter mit dem Titel „Turbulente Vorgeschichte – friedlicher Ablauf: Die Theorie- und Technik-Diskussion auf dem Salzburger Kongress 1924“ befasst sich mit dem großen Kongress-thema, dem Verhältnis von Theorie und Technik in der Psychoanalyse. Rank und Ferenczi veröffentlichten kurz vor dem Salzburger Zusammentreffen ihr Werk Entwick-lungsziele der Psychoanalyse und Rank sein Das Trauma der Geburt, welche massive Kontroversen auslösten. In feinsinniger Weise zeichnet Michael Schröter die einzelnen, zum Teil bissig-subtilen Vorträge in Salzburg nach, um final zusammenzufassen, dass niemand die verschiedenen Positionen offen auf den Tisch legte. Schröter resümiert dies als „Antiklimax „ im Gegensatz zur erregten Vorgeschichte des Kongresses. Helena Harpers „›Fressen will ich dich‹ – Abrahams Oralitätsbegriff, eine Würdigung“ befasst sich mit Karl Abrahams Beitrag zur Oralität am Salzburger Kongress. Harper beginnt mit einer ausführlichen Biografie und führt uns über mehrere Schriften Abrahams aus der Zeit vor dem Salzburger Kongress, bei denen sie u. a. die erstmalige Differenzierung der oral-saugenden von der oral-sadistischen oder oral-kannibalistischen Phase hervorhebt, zum eigentlichen Kongressvortrag „Beiträge der Oralerotik zur Charakterbildung“, der in die orale Trias des Aufnehmens, Verdauens und (Wieder-)Herausgebens mündet. Die orale und damit sehr frühe Fixierung macht Helena Harper an der sehr lyrischen Darstellung einer Patientin von sich fest. Karl Fallend behandelt in seinem Artikel „1924ff. – Der Kampf um die Laienanalyse“ die 1924 virulente Frage der Laienanalyse. Reich bebildert und spannend erzählt zeichnet Fallend u. a. den tragischen Weg der relativ wenig bekannt gewordenen us-amerikanischen Sozialarbeiterin Caroline Newton nach, die 1924 in die WPV aufgenommen wurde, dann aber in den USA nicht als Psychoanalytikerin arbeiten durfte. Mit der Ermordung von Hermine Hug-Hellmuth, der ersten Kinderanalytikerin, durch ihren Neffen Rudolf Hug, entzündete sich die Laienanalysefrage erneut. Über August Aichhorn, den Kurpfuscherei-Rechtsstreit um Theodor Reik bis zu Rosa Dworschak und Elisabeth Schilder, die die psychoanalytische Sozialarbeit mitbegründeten, führt uns Karl Fallend bis ins 21. Jahrhundert. Ulrike Körbitz nimmt Wilhelm Reich unter die Lupe. Witzig, frech und doppelbödig ist schon der Titel ihres Vortrags: „Das Hohelied auf die gesunde, reife, heterosexuelle Genitalität. Wilhelm Reich revisited.“ Die Autorin lässt uns in anschaulicher Weise mitvollziehen, wie sie aus heutiger Sicht einerseits staunend-ungläubig Reichs Diagnostik und auch seinen klinischen Beispielen folgt, wenn er z. B. das Phänomen des ejakulativen Orgasmus des Mannes, ohne orgastisch zu sein, darstellt. Ulrike Körbitz´ Transfer – als ehemalige Mitarbeiterin der Salzburger Sexualberatungsstelle – schließt in der Jetztzeit, in der sie eine sich immer weiter ausdifferenzierende ent-sexualisierte Sex-und-Gender- Diskussion in ihrer Antiheteronormativitätsanspruchshaltung konstatiert. Jutta Menschik-Bendele arbeitet sich mit „Die Erschaffung der Frau und ihre Abschaffung – Theodor Reik re-visited“ an Reiks Texten zur Weiblichkeit ab. Reik hat deutliche Widersprüche der biblischen Geschichte von Adam und Eva dargestellt und kommt in einer Gesamtdeutung auf ein Beschneidungssritual von Adam. Die Erschaffung der Frau durch den quasi gebärenden Mann liest Theodor Reik als Größen- und Umdeutungs-phantasie von Männern. Jutta Menschik-Bendele gelingt es in einem nächsten Schritt, ihre Ausführungen über die Frauenbewegung mit der Transgenderfrage zu verbinden, wo mehrheitlich das weibliche Geschlecht aufgegeben werden soll und das Frau-Sein geradezu verschwindet. In einem mit drei Fallvignetten garnierten Abschlusskapitel spricht sie dem „Nicht-Wissen“ das Wort.
Die Rubrik „Aus der Forschung“ wird eröffnet mit einem Nachtrag zum vorherigen Heft über Harald Schultz-Hencke. Werner Köpp und Michael Schröter präsentieren ein Interview, das Sibylle Grüner 1992 mit Helmut Bach über Schultz-Hencke geführt hat. Bach, Schüler von Schultz-Hencke und langjähriger Vorsitzender am Berliner Institut für Psychotherapie, äußert sich darin differenziert zu den Stärken und Schwächen Schultz-Henckes. Gleichzeitig bietet das Interview Einblicke in den Umgang der DPG mit der Neoanalyse und der Freudschen Analyse von den Fünfziger- bis zu den Neunzigerjahren. Jan Abram gibt in ihrem Aufsatz einen historischen Überblick über D. W. Winnicott und die britische Psychoanalytische Gesellschaft zwischen 1919 und 1971. Dabei wertet sie Arbeitstagebücher und Schriften aus dem Winnicott-Archiv aus, an dessen Aufbau sie beteiligt war. Erstmals werden in diesem Beitrag auch die Ansprachen von Winnicott und Strachey bei der Feier anlässlich des Abschlusses der Standard Edition 1966 abgedruckt.
Die Rubrik „Kleine Mitteilungen“ beginnt mit einem überarbeiteten Vortrag von Thomas Aichhorn anlässlich der Übergabe der Bibliothek seines Großvaters August Aichhorn an die WPV. Es wird das Schicksal dieser Bibliothek und der vor der nationalsozialistischen Vernichtung geretteten Bände des Verlags und der WPV geschildert. Dem schließen sich Überlegungen von Michele Lualdi zum Übersetzen psychoanalytischer Schriften an. Anhand seiner Übersetzung des Briefwechsels Ferenczi- Groddeck zeigt er verschiedene Aspekte auf, die Übersetzer beachten sollten. Es folgt ein Buchessay von Benedikt Salfeld über das Buch „Sigmund Freuds figürliche Psychoanalyse“ von Horst Bredekamp, in dem er sich mit Freuds Überwindung des Bilderverbots befasst. Michael Schröter reagiert mit einer Replik auf Martynkewiczs kritischen Essay im Februarheft der Psyche über sein Buch Auf eigenem Weg. Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland bis 1945. Den Bericht über das 37. Symposion zur Geschichte der Psychoanalyse in Berlin hat Peter Theiss-Abendroth verfasst.
Buchbesprechungen und Literaturanzeigen beschließen das Heft.
In eigener Sache: Auf Anregung unseres Beiratsmitgliedes Ulrike May haben die Herausgeber beschlossen, ab dem nächsten Heft eine Rubrik „Leserbriefe“ einzuführen. Hier können inhaltliche Anmerkungen, Kritiken, Ergänzungen oder Korrekturen geäußert werden. Die Redaktion behält sich das Recht der Auswahl und Umfangs-begrenzung vor. Die Briefe können an einen der vier Herausgeber von Luzifer-Amor gerichtet werden.
Thomas Radauer, Michael Giefer