Heft 75 (38. Jg. 2025): I: Briefe von Anna Freud an Max Eitingon (1926–1928) II: Martin Grotjahn

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Editorial (S. 5–6)

Mit dem 75. Heft im 38. Erscheinungsjahr feiern wir auch ein kleines Jubiläum von LUZIFER-AMOR und denken mit Dankbarkeit an Gerd Kimmerle, den Gründungsherausgeber (zusammen mit Bernd Nitzschke) und ersten Verleger der Zeitschrift bei seiner edition diskord in Tübingen zurück, der in seiner Frau Dagmar Kimmerle eine wesentliche Stütze hatte. Seit 2009 hält uns Roland Apsel mit seinem Frankfurter Verlag Brandes & Apsel und seinen verlässlichen und kompetenten Mitarbeiterinnen die Treue, wofür wir ebenfalls dankbar sind.

Dieses Heft hat zwei sehr unterschiedliche Themenschwerpunkte. Den ersten bestreitet Ulrike May mit einer Briefedition. Sie ist bereits seit dem achten Heft 1991 als Autorin bei LUZIFER-AMOR aktiv und hat viele wertvolle Beiträge geliefert. Hier lässt sie aus dem spröden Material von 41 Briefen Anna Freuds an Max Eitingon aus den Jahren 1926 bis 1928 einen bisher kaum beachteten Wendepunkt der psychoanalytischen Technik anschaulich hervortreten: In ihrer Einführung in die Technik der Kinderanalyse (1927) erweist sich Anna Freud nämlich als Pionierin der Technik und überschreitet mutig bis dahin bestehende Neutralitäts- und Abstinenzgebote, um der besonderen Verfassung der Kinder gerecht zu werden. Von ihrem Vater und Sándor Ferenczi erfährt sie dabei Rückendeckung, während sie von der englischen Schule in Veranstaltungen, die zum europäischen Kontinent hin fast verborgen gehalten werden, regelrecht abgefertigt wird. Auch wenn sie später einige der Neuerungen revidiert, bleibt sie doch beim Kreieren eines kinderanalytischen Ausbildungsgangs unabhängig und selbstbewusst. Ihre Beziehungen zu Lou Andreas-Salomé und Max Eitingon durchlaufen in diesen Jahren schwere Krisen, was für den letzteren Fall seit langem bekannt war, für den ersteren dagegen hier erstmalig hervorgehoben wird.

Der zweite Themenschwerpunkt ist dem deutsch-amerikanischen Psychiater und Psychoanalytiker Martin Grotjahn (1904–1990) aus der dritten Analytikergeneration nach Freud gewidmet. Er hat 1987 eine mit eigenen Cartoons illustrierte Autobiographie vorgelegt und damit seine besondere künstlerische Passion demonstriert. Ungewöhnlich für Luzifer-Amor ist der Schwerpunkt mit einer Vielzahl seiner Cartoons bestückt, da zwei der AutorInnen um diese ihren Text organisiert haben. Für mehrere Beiträge ist der im Bundesarchiv Koblenz lagernde, wissenschaftliche Nachlass Grotjahns zur entscheidenden Dokumentenfundgrube geworden. Regine Lockot montiert aus Grotjahns Autobiographie, seinen Cartoons und eigenen Recherchen ein buntes Bild seiner Persönlichkeit, ausgehend vom Berliner Elternhaus bis in die Emigration nach Los Angeles, wo er als einer der Analytiker von Hollywood wirkte. Das lebenslange Kreisen der Cartoons um seine Ehefrau Etelka wird mit Grotjahns eigener Familiengeschichte in Verbindung gebracht. Seine Wiederannäherung an die westdeutsche Nachkriegsanalyse wird ebenfalls gestreift. Rainer Herrn zeichnet Grotjahns Berliner psychiatrische Jahre bis zur Emigration 1936 nach. Dabei stützt er sich vor allem auf den psychiatriegeschichtlich bedeutsamen Aufsatz »Zur Psychiatrischen Systematik und Statistik« (1933) sowie auf einen an den Vater Alfred Grotjahn kurz vor dessen Tod adressierten Brief, in dem der Sohn seinen Abschied von der Psychiatrie und seine Hinwendung zum psychodynamischen Denken beschreibt. Außerdem wird Grotjahns intensive Mitarbeit an psychiatrischen Erbgesundheitsgutachten dargestellt. Peter Loewenberg aus Los Angeles hat Grotjahn noch als psychoanalytischen Lehrer in den Sechzigerjahren erlebt. Er beschreibt dessen dominanten, prägenden Stil besonders in der Ausbildung und seine entscheidende Rolle bei der Spaltung des alten Instituts im Jahr 1950. Ganz anders nähert sich Jochen Bonz dem Gruppenanalytiker Martin Grotjahn an, indem er sich dessen illustrierte Beiträge in der Zeitschrift group analysis vornimmt und ihn als Gruppenanalytiker zu verschiedenen Themen, insbesondere auch zum Altwerden und Praxisende, zu Wort kommen lässt. Er endet mit der Frage, warum sich Grotjahn nicht mit der Eugenik-Befürwortung seines Vaters Alfred Grotjahn befasst hat.

In der Rubrik Aus der Forschung führt uns Christfried Tögel eine bisher wenig ausgeschöpfte Quelle der Freud-Forschung vor, indem er Kurt R. Eisslers beharrliche Interviewfragen nach dem Tratsch um Freud aufgreift. Er beleuchtet zunächst allgemein die Rolle von Tratsch und Klatsch, um dann an ausgesuchten Beispielen deren historische Aussagekraft zu prüfen. In einem ersten Fall bezieht er sich auf ein Interview Eisslers, zwei weitere gehen auf Freud selbst zurück. Reinhard Fatke kommt dem jungen Wiener Psychoanalytiker Willi Hoffer »auf die Schliche«, indem er dessen psychologische Dissertation aus dem Jahr 1922 einer eingehenden Prüfung unterzieht. Er weist nach, wie Hoffer in seiner psychologischen Untersuchung des Kinderspiels seine psychoanalytischen Erwägungen sorgsam verhüllt hat, um seine akademischen Chancen nicht zu verspielen. Hilmar Spiske erinnert in seiner biographischen Studie an den jung verstorbenen Wiener Indologen Ignaz Schoenberg (1860–1886), der mit Minna Bernays, der Schwester von Freuds Braut, verlobt war. Er schöpft dabei ausgiebig aus den Freud-Briefwechseln mit Minna und Martha Bernays. Dabei wird deutlich, dass Schoenberg und Freud einander in einem kurzen Zeitraum gegenseitig unterstützt haben.

Ein dieses Mal knapp ausgefallener Rezensionsteil und Literaturanzeigen beschließen das Heft.

Ludger M. Hermanns