Heft 51 (26. Jg. 2013): S. Freud, "Jenseits des Lustprinzips". Neu-Edition, Erstabdruck der Urfassung (1919) und Kommentar

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Editorial (S. 5–6)

Das vorliegende Heft ist de facto eine Monographie und damit für LUZIFER-AMOR ein singulärer Fall. Im Fokus steht Jenseits des Lustprinzips, eine der rätselhaftesten und meistdiskutierten Schriften Freuds, die eine bedeutsame Weichenstellung in der Entwicklung seines Denkens: den Schritt zu einer neuen Triebtheorie, markiert. Von ihr sind – eine Seltenheit in Freuds Œuvre – zwei wesentlich verschiedene Manuskriptfassungen überliefert. Auf diesen Sachverhalt beziehen sich die beiden umfangreichen, zusammengehörigen Beiträge des Hefts. Ihr innovativer Charakter und ihr Gewicht mögen ausnahmsweise den Verzicht auf die Vielfalt rechtfertigen, die eine Zeitschrift an sich ihren Lesern schuldet.

Am Anfang steht eine Neu-Edition des Jenseits, vorbereitet von Ulrike May und eingerichtet von Michael Schröter, die alle Textschichten von den Manuskripten der Erst- und Zweitfassung über die verschiedenen Druckausgaben bis zur Fassung letzter Hand abbildet. Diese Publikationsform stellt eine Premiere dar: die erste kritische Ausgabe eines Freud'schen Textes, in der die bekannten Textvarianten vollständig, ohne editorisch-autoritative Vorentscheidung über ihren jeweiligen Wert oder Unwert präsentiert werden. Im vorliegenden Fall lohnt sich ein solches Verfahren in besonderem Maße, weil Jenseits des Lustprinzips in seinem Werdegang besonders tiefgreifende Veränderungen erlebt hat. Mit der eigenständigen Wiedergabe der Erstfassung im Anhang der Edition wird außerdem ein bisher unbekanntes Freud-Manuskript erstmals gedruckt.

Im zweiten Hauptbeitrag führt Ulrike May einen gründlichen Vergleich der beiden erhaltenen Manuskripte des Jenseits durch. Sie hebt hervor, dass in der Erstfassung bereits die Idee von Trieben, die zum Tode drängen, vorkommt (nicht jedoch die Bezeichnung »Todestriebe«). Die Idee sollte einerseits dem klinischen Phänomen des im Kern analyseresistenten Wiederholungszwangs gerecht werden, der Freud vor allem an den traumatischen Neurosen aufgefallen war, und griff andererseits weit in die Biologie aus. In dem spekulativen Einfall, dass allen Trieben ein konservativer Zug eigne, der auf Wiederherstellung eines früheren Zustands und letztlich auf den Tod ziele, sieht May das Zentrum der ersten Schicht von Freuds Überlegungen. Dieser Einfall sei noch im Fortgang der Niederschrift der Erstfassung zurückgezogen bzw. auf die Selbsterhaltungstriebe beschränkt worden.

Die Zweitfassung des Jenseits, die als Vorlage für den Druck diente, zeigt eine fortgeschrittene Stufe des Nachdenkens, und zwar hauptsächlich im sechsten Kapitel, das in den älteren Text eingeschoben wurde. Hier gab Freud, so wieder May, auch den Gedanken auf, dass die Selbsterhaltungstriebe zum Tode drängen; für den Drang zum Tod schlug er eine eigene Triebgruppe vor, »die Todestriebe«. Zu ihr trat als Gegenspieler der Eros, unter den sowohl die Sexual- als auch die Selbsterhaltungstriebe subsumiert wurden. Die Einführung des Eros ist nach May die eigentliche und wesentliche Neuerung, die bei der Überarbeitung der Schrift hinzukam. Das neue Konzept habe (was durch eine frappante textliche Differenz zwischen Erst- und Zweitfassung belegt wird) Freud aus einem Dilemma geholfen: Er konnte so Phänomene der Verschmelzung oder Verbindung von Zellen, Organismen und Menschen einschließlich der geschlechtlichen Fortpflanzung theoretisch erfassen, die mit seinem Begriff der Sexualität, dessen Bezugspunkt die autoerotische infantile Sexualität war, nicht in Einklang zu bringen waren.

Ein Leitaspekt von Mays Untersuchung ist, dass Jenseits des Lustprinzips als Dokumentation eines fortlaufenden Denkprozesses zu lesen sei. Es sei eine generelle Eigenart von Freuds Theoriebildung, dass er frühere Stufen seines Nachdenkens, wenn er über sie hinausging, nicht verwarf, sondern neben den späteren Überlegungen stehen ließ, auch wenn sie diesen widersprachen, dass er also auf eine glättende Synthese seiner theoretischen Ansätze verzichtete. Viele Rätsel der Schrift lösen sich auf, wenn man versteht, dass Freud darin tentative Thesen aufstellt, von denen er im selben Text wieder Abstand nimmt – ohne sie jedoch zu streichen oder als unhaltbar zu entwerten.

Soviel zum Thema des Hefts. Als eine Art Ersatz für die mangelnde Vielfalt ist der Rezensionsteil umfangreicher gehalten als sonst.

Einen virtuellen Teil dieses Hefts bildet auch die »Thematisch geordnete Liste von Arbeiten zur Psychoanalysegeschichte in deutschsprachigen Zeitschriften (2011)«, die nur als Überschrift im Inhaltsverzeichnis vertreten ist, während ihr Text online publiziert wird. Nachdem die früheren Bearbeiter die Verantwortung für die Vorgängerliste niedergelegt hatten, erklärte sich Roman Krivanek aus Wien dankenswerterweise bereit, wenigstens die deutschsprachigen Aufsätze weiter zusammenzustellen. Es wäre begrüßenswert, wenn sich ein zweiter jüngerer Kollege oder eine Kollegin fände, der/die zusätzlich die englische Abteilung übernimmt.

Zum Schluss noch ein Hinweis auf eine andere, wichtige Neuerung: Seit letztem Jahr ist LUZIFER-AMOR als E-Journal, d. h. in elektronischer Form, erhältlich. Das Angebot bezieht sich auf das Jahresabonnement, auf ganze Hefte und auf Einzelbeiträge (ab Heft 45). Details sind der Website des Verlags zu entnehmen (http://www.brandes-apsel.de/bookshop/la/).