Heft 54 (27. Jg. 2014): Psychoanalyse, Kinderläden, Studentenbewegung
Editorial (S. 5–6)
Mit der Erweiterung der Redaktion von LUZIFER-AMOR, die 2014 in Kraft getreten ist, war die Absicht verbunden gewesen, das Themenspektrum der Zeitschrift zu erweitern, nicht zuletzt in Richtung Zeitgeschichte. Das vorliegende Heft ist ein erstes Ergebnis dieser Öffnung – die zugleich eine Rückkehr zu früheren Perspektiven bedeutet: 13 Jahre nachdem in LA 28 zum ersten Mal das Thema "Psychoanalyse und Studentenbewegung" behandelt worden war, haben wir die Psychoanalyserezeption in der westdeutschen Studentenbewegung der 1960er Jahre erneut aufgegriffen. Die damaligen Ereignisse befinden sich zur Zeit in einem historiographischen Zwischenraum: Sie werden einerseits bereits von jüngeren Historikern bearbeitet, andererseits noch von Autoren beschrieben, die als Beobachter oder sogar als Akteure selbst an ihnen beteiligt waren. Die Spannung zwischen diesen beiden Polen, die auch eine zwischen den Generationen ist, kommt in den drei nachfolgenden Schwerpunkt-Beiträgen zum Ausdruck . Wir haben sie so angeordnet, dass sich ein Gefälle von der Distanzierung des Historikers zum Engagement des Beteiligten abzeichnet. Beide Einstellungen erweisen sich, wie wir finden, auf je spezifische Weise als fruchtbar.
Offenbar war die Gründung antiautoritärer Kinderläden eine der bleibenden Errungenschaften jener Zeit. Sie hat sich deshalb – ungeplant – als Fokus des neuerlichen Themenschwerpunkts "Psychoanalyse und Studentenbewegung" herausgeschält. Anthony D. Kauders findet u. a. aufgrund seiner Recherchen im APO-Archiv der FU Berlin, dass insbesondere die sexualökonomischen Schriften Wilhelm Reichs als Kompass der Kinderladenerziehung dienten, wobei sie von der libertären und der szientistischen Fraktion unterschiedlich verstanden wurden. Uta Gerhardt fasst neben den Kinderläden auch die Kommune 2 und den Aktionsrat zur Befreiung der Frau ins Auge und untersucht ebenso detailliert wie kritisch anhand von Protokollen und Dokumenten, auf welche Weise dort Psychoanalyse verstanden und verwendet wurde. Lutz von Werder, ein Protagonist der damaligen Kinderladenszene, arbeitet die Wiederentdeckung der Schriften Siegfried Bernfelds im Rahmen des Theoretisierens der Kinderladengründergeneration heraus. Außerdem zieht er eine Bilanz der zeitweiligen Allianz von Psychoanalyse und Studentenbewegung und meint, dass ein in der BRD weithin ungenutztes Zukunftspotential in diesen pädagogischen Initiativen gesteckt habe.
Eines der großen Editionsprojekte in unserem Feld stellt zurzeit die mehrbändige Publikation der Brautbriefe zwischen Sigmund Freud und Martha Bernays dar, von der inzwischen, herausgegeben von Gerhard Fichtner, Ilse Grubrich-Simitis und Albrecht Hirschmüller, die ersten beiden Bände erschienen sind. Das Projekt wird in diesem Heft in zwei Beiträgen ausgewertet und gewürdigt. Albrecht Hirschmüller geht dem Bildungsstand der beiden Briefschreiber nach und prüft, welche Funktionen die schöne Literatur für sie hatte. Michael Molnar vertieft sich in einem Buch-Essay in den 2013 erschienenen zweiten Band, wobei sein Hauptaugenmerk ebenfalls der Lektüre der Brautleute gilt.
Angela Hennig und Peter Vogelsänger rekonstruieren in ihrem Beitrag zum Leben und Werk des Psychosomatikers und Begründers der transkulturellen Psychiatrie Eric D. Wittkower vor allem dessen Berliner Forschungsanfänge in der Charité der späten zwanziger und beginnenden dreißiger Jahre. – Dominic Angeloch, der erste Empfänger des Gerhard-Fichtner-Stipendiums, hat die Briefe Sigmund Freuds an den deutsch-amerikanischen Publizisten George Sylvester Viereck ediert, die durch dessen schillernde Persönlichkeit aus der Masse der Korrespondenzen Freuds herausragen.
Eine kleine Karl-Abraham-Renaissance ist zu vermelden, zu der LUZIFER-AMOR mit zwei Themenheften 1997 (LA 20) und 2010 (LA 46) beigetragen hat. Die im Vorjahr erschienenen, vornehmlich biographisch ausgerichteten Bücher von Anna Bentinck van Schoonheten und Karin Zienert-Eilts werden von Brita Rang und von Ernst Falzeder eingehend vorgestellt und bewertet. – Von dem in diesem Jahr viel zu früh verstorbenen Hans-Martin Lohmann, der sich um die Freud-Forschung und die westdeutsche Psychoanalysepublizistik so viele Verdienste erworben hat, können wir posthum noch einen Buch-Essay zu Andreas Peglaus Untersuchung über die Psychoanalyse im Nationalsozialismus, mit Schwerpunkt auf Wilhelm Reich, veröffentlichen. – Aus der Feder von Andrea Huppke stammt der Tagungsbericht über das diesjährige 27. Symposion zur Geschichte der Psychoanalyse in Berlin. Sie ist damit in eine Aufgabe eingetreten, die seit 1998 mit wenigen Unterbrechungen von Manfred Klemann wahrgenommen worden war, dem dafür der Dank von Redaktion und Leserschaft der Zeitschrift gebührt.
Eine Fülle von Rezensionen und Buchanzeigen beschließt dieses Heft, für das Magdalena Frank und Veronica J. Mächtlinger freundschaftliche Unterstützung geleistet haben.
Ludger M. Hermanns