Heft 58 (29. Jg. 2016): Amerikanische Impulse für die westdeutsche Nachkriegspsychoanalyse

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Editorial (S. 5-6)

1945 gab es nur wenige Personen in Deutschland, die eine vor 1933 in der psychoanalytischen Ausbildung erworbene und nachfolgend in der Pra­xis gefestigte psychoanalytische Identität hatten bewahren können. In den Hauptzufluchtsländern der jüdischen Emigranten, Großbritannien und den USA, hatten die von Freud begründete Theorie und Praxis in der Zwischenzeit eine fruchtbare Weiterentwicklung erfahren. Deshalb nimmt es nicht wunder, dass der wissbegierige Nachwuchs sich aufmachte, vor Ort davon zu lernen. Es setzte Ende der 1940er und in den 1950er Jahren eine regelrechte Reisewelle von Psychotherapeuten aus Westdeutschland in die USA ein, ob für Rundreisen oder längere Ausbildungsaufenthalte. Zu ihnen gehörten (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) Günter Ammon, Werner F. Becker, Johannes Cremerius, Alexander Mitscherlich, Lutz Rosenkötter, Felix Schottlaender, Walter F. Seemann, Helmut Thomä und Wolfgang Zander. Welche Impulse sie dort für ihre spätere Tätigkeit in der BRD bekommen haben, ist im Wesentlichen das Titelthema dieses Heftes und wird an mehreren Beispielen untersucht.

Susanne Kitlitschko stellt anhand eines kleinen Briefwechsels zwischen Seemann und seinem Chef Mitscherlich dar, wie riesengroß die Unter­schiede im Ausbildungsniveau zwischen Chicago und Heidelberg waren und wie Mitscherlich für seine psychosomatische Mission nach aktueller amerikanischer Literatur lechzte, die Seemann beschaffen musste, der sich seinerseits im Mekka der entsprechenden Forschung fühlte. Als Mitscher­lich selbst 1951 eine dreimonatige Studienreise in die USA unternahm, gerierte er sich als kritischer Europäer, der mit den Besonderheiten der amerikanischen Kultur seine liebe Mühe hatte, wie aus seinem umfangreichen Reisetagebuch zu entnehmen ist, das Martin Klüners ausgewertet hat. Klüners sieht, wie sich bei Mitscherlich die aus den 1930er Jahren stam­menden amerikafeindlichen Tendenzen ablösen und einem moderateren Bild weichen, sodass sich an seinem Beispiel die Westernisierung der alten Bundesrepublik demonstrieren lässt. Obwohl gerade Mitscherlich sich sehr bemühte, Emigranten wie Henry Lowenfeld aus New York zur Rückkehr nach Deutschland und Leitung des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts zu bewegen, gelang ihm das in keinem einzigen Fall. Und doch gingen nach dem Krieg wichtige US-Impulse zur Förderung der Psychoanalyse in Westdeutschland von Emigranten aus, wie Gunzelin Schmid Noerr am Bei­spiel von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer und ihrem in Frank­furt a. M. wiedergegründeten Institut für Sozialforschung nachweisen kann. Trotz ihrer Skepsis gegenüber der Erklärungskraft der Psychoanaly­se setzten sie ihre im amerikanischen Exil begonnene Zusammenarbeit mit Psychoanalytikern in Frankfurt mit Alexander Mitscherlich fort und trugen so entscheidend zum Aufblühen der Psychoanalyse bei. ? Mit einer bio­graphischen Einleitung legt Simone Bley den Bericht von Felix Schottlaender vor, den er 1950 nach der Rückkehr von seiner dreimonatigen Reise durch psychotherapeutische und psychoanalytische Einrichtungen in USA als Vortrag verfasst hatte. Neben der Wiedergabe allgemeiner Beobachtungen zu Land und Leuten zeichnete Schottlaender vorwiegend von Sympathie getragene Bilder der Kolleginnen und Kollegen, denen er begegnet war.

In der Rubrik der freien Forschungsbeiträge beschäftigt sich Wolfgang Bock mit einer anderen Facette des Verhältnisses der Frankfurter Schule zur Psychoanalyse: Er untersucht, welchen fortwirkenden Einfluss Karl Lan­dauer auf seinen (Lehr-)Analysanden Horkheimer Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre hatte. Der Austausch wurde auch in der Emig­ration bis zu Landauers Verschleppung in ein deutsches KZ fortgesetzt. ? Roman Krivaneks Beitrag über den Briefwechsel Anna Freuds mit Richard und Editha Sterba gibt einen lebendigen Eindruck von den Wechselfällen des Emigrantenlebens der Sterbas in Detroit, die dort in eine berufliche Isolierung gerieten und Anna Freud gerne dauerhaft in die USA geholt hätten. ? Die biographischen Neuentdeckungen und Ergänzungen zum Weimarer Psychoanalytischen Kongress 1911, die wir im letzten Heft be­gonnen hatten, werden von Andreas Peglau (über Maria von Stach und den Kongressphotographen Franz Vältl) und Michael Schröter (über einen der frühesten deutschen Freud-Anhänger im Sanatoriumsbereich, Georg Wan­ke aus Friedrichroda, Thüringen) mit einer Fülle von bisher unbekannten Funden und Fotos komplettiert.

Dem dritten Band der Brautbriefe zwischen Sigmund Freud und Mar­tha Bernays widmet Michael Molnar eine eingehende Besprechung, in der er das lange Aufeinanderwartenmüssen der beiden im Jahr 1884 mit dem charakteristischen Oszillieren zwischen Liebes- und Arbeitsthemen be­leuchtet. Die acht Monate dauernden Kämpfe und Proben erfordern Mut und werden von den Liebenden auf unterschiedliche Weise bestanden. ? Andrea Huppke steuert zum Heft ihren alljährlichen Bericht über das Berli­ner Symposion zur Geschichte der Psychoanalyse bei.

Abschließend sei wieder ein herzlicher Dank an Magdalena Frank und Veronica J. Mächtlinger für ihre tatkräftige Unterstützung ausgesprochen.

Ludger M. Hermanns