Heft 62 (31. Jg. 2018) I: S. Freud, Das Ich und das Es (Entwurf 1922) II: Gerhart Scheunert
Editorial (S. 5–7)
Das aktuelle Heft hat ausnahmsweise zwei Themenschwerpunkte.
Am Anfang steht die Erstveröffentlichung der Entwurfsfassung von Das Ich und das Es (1922), herausgegeben von Ulrike May und Michael Schröter. Es handelt sich um einen der seltenen Fälle, in denen eine Freud-Schrift, und noch dazu eine so zentrale, in einer Manuskriptfassung erhalten ist, die erheblich von der Druckfassung der diversen Werkausgaben abweicht. Zwar betreffen die Abweichungen nicht die theoretische Substanz wie im Parallelfall von Jenseits des Lustprinzips, dem Heft 51 von LUZIFER-AMOR gewidmet war; dafür dokumentieren sie, ebenfalls anders als bei Jenseits, den intensiven Revisionsprozess, in dem Freud seinen Werken den letzten Schliff gab. Die Aufgabe, durch eine vergleichende Lektüre des hier wiedergegebenen Entwurfs mit der Druckfassung von Das Ich und das Es diesen Prozess nachzuvollziehen, bleibt den Lesern von LUZIFER-AMOR überlassen. Ihnen winkt eine aufschlussreiche Erfahrung.
Mit dem zweiten Themenschwerpunkt »Gerhart Scheunert 1906–1994« betreten wir Neuland, indem wir uns Leben und Werk eines zeitgenössischen deutschen Psychoanalytikers widmen, der erst vor einem knappen Vierteljahrhundert verstorben ist und so noch zu unserer Zeitgeschichte gehört. Damit ist kein genügender historischer Abstand vorhanden, der eine Bewertung und Einordnung zweifellos erleichtern würde. Trotzdem versuchen wir mit verschiedenen Beiträgen, Scheunerts psychoanalytischem Lebenswerk als Wissenschaftler und seinen Leistungen für die Psychoanalyse im Nachkriegsdeutschland auf dem Hintergrund seines Werdeganges gerecht zu werden. Als Mitbegründer und zeitweiliger Vorsitzender der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV) war Scheunert als Kliniker, Theoretiker und Funktionär einer der bedeutendsten Psychoanalytiker der jungen Bundesrepublik. Im Vorfeld des ersten Internationalen Psychoanalytischen Kongresses nach dem II. Weltkrieg auf deutschem Boden 1985 in Hamburg wurde die bis dahin weitgehend unbekannte Kollaborationsgeschichte der im Lande verbliebenen »arischen« Psychoanalytiker mit dem NS-System erforscht. Als in dem Zusammenhang Scheunerts Parteimitgliedschaft in der NSDAP breiteren Kreisen Anfang der 1990er Jahre bekannt wurde, ging eine Welle der Empörung durch die psychoanalytische Landschaft. Dabei teilten sich die Stimmen in solche, die Scheunert ein jahrelanges Verschweigen seiner Parteimitgliedschaft vorhielten, und andere, die den Forschern unbarmherzige Verfolgermentalität unterstellten. Für die wünschenswerte Untersuchung der zugrundeliegenden Gruppenprozesse ist Archivmaterial bisher noch nicht ausreichend zugänglich. Es schien uns aber an der Zeit, Scheunerts Leben, sein psychoanalytisches Werk und die späte Debatte um seine Vergangenheit einer kritischen Betrachtung zu unterziehen.
Martin Klüners hat Scheunert exemplarisch von seinem Geburtsjahrgang 1906 her begriffen und auf der Grundlage seiner privaten Tagebücher als Vertreter der Kriegsjugendgeneration gezeichnet. Gleichwohl findet er parallel zur psychoanalytischen Sozialisation kein überzeugendes Motiv für seinen Parteieintritt 1933. – Michael Geyer weist Scheunerts Biographie als die eines normalen Deutschen seiner Generation aus, dessen Lebensstationen er von Leipzig über Erfurt nach Berlin verfolgt. Bei der für die Erfurter Praxisjahre nachgewiesenen Mitarbeit beim Erbgesundheitsgericht erscheint Scheunert als patientenzugewandt und dem Geiste der nationalsozialistischen Erbgesundheitsgesetze zuwiderhandelnd. – Werner Bohleber hebt Scheunerts Verdienste um die psychoanalytische Theorierezeption der 1950er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland hervor, wobei er nicht nur seine wichtigen Publikationen darstellt, sondern auch deren latente Bedeutungen wegen der fehlenden expliziten Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte in den Nazijahren herausarbeitet. – Volker Friedrich zentriert seine Gedanken und Erinnerungen zu Scheunert auf dessen Hamburger Jahre von 1959 bis 1994. Als Beteiligter an den Kontroversen um Scheunerts Parteimitgliedschaft schildert er seine persönliche Sicht als Zeitzeuge. Aus Platzgründen konnten wir seinen Beitrag nicht in diesem Heft abdrucken, er ist auf der Webseite von LUZIFER-AMOR online zu lesen.
Ludger M. Hermanns und Regine Lockot haben im Sommer 1979 kurz nacheinander Gerhart Scheunert in Hamburg interviewt, Lockot noch ein weiteres Mal ein Jahr später. Hermanns’ Interview wird als Tonbandmitschnitt transkribiert und knapp kontextualisiert, während Lockot Aufzeichnungsprotokolle mit Überlegungen zu ihrer Gegenübertragung präsentiert. Ein Vergleich beider Aufzeichnungsformen an parallelem Material erscheint als reizvoll. – Ein bisher unveröffentlichter Vortrag von Gerhart Scheunert aus dem Jahr 1960 anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der von ihm mitbegründeten Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV) lässt seiner Sicht auf die deutsche Psychoanalysegeschichte sozusagen das letzte Wort. Auch dieser Beitrag kann nur online auf unserer Webseite gelesen werden.
In der Abteilung »Aus der Forschung« bringt Hans Füchtner einen weiteren Baustein zur Gründungsgeschichte der Psychoanalyse in Brasilien: Aufgrund genauer Quellenstudien porträtiert er den hierzulande weitgehend unbekannten Pionier Mark Burke und dessen kurze, konflikthafte Lehrtätigkeit in Rio de Janeiro in den Jahren 1948–1953. – Andreas Mayer würdigt den unlängst verstorbenen britischen Wissenschaftshistoriker John Forrester anhand seiner zentralen Beiträge zur Geschichte der Psychoanalyse, mit denen er sich für ein neues Paradigma eingesetzt hat. Jenseits von Hagiographie und »Mythen«kritik begriff Forrester die Psychoanalyse als eine Naturwissenschaft, die »anders« ist, gekennzeichnet durch ein »Denken in Fällen«.
In einem Buch-Essay würdigt Helmut Dahmer Adornos Psychoanalyse-Rezeption, wie sie von Wolfgang Bock in seinem Buch Dialektische Psychologie vor allem aus den erhaltenen Entwürfen bzw. Überarbeitungsstufen von Adornos Schriften zur Psychoanalyse erstmals in dieser Akribie rekonstruiert worden ist. – Andrea Huppke berichtet anschließend wie gewohnt lebendig vom diesjährigen Berliner Symposion zur Geschichte der Psychoanalyse.
Rezensionen und Buchanzeigen beenden das Heft. Die Jahresbibliographie 2017 von deutschsprachigen Zeitschriftenaufsätzen zur Geschichte der Psychoanalyse ist wieder von Arkadi Blatow zusammengestellt worden und unter www.luzifer-amor.de abrufbar. – Veronica Mächtlinger danken wir herzlich für ihre erneute Unterstützung in Übersetzungsfragen.
Zuletzt möchten wir Michael Giefer und Rainer Herrn, die wir in unserem letzten Editorial schon vorgestellt haben, als neue Mitherausgeber und Andreas Mayer aus Paris als neues Mitglied unseres wissenschaftlichen Beirats herzlich begrüßen.
Ludger M. Hermanns