Heft 72 (36. Jg. 2023): Sexualwissenschaft und Psychoanalyse: Personen & Organisationen, Theorie & Praxis

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Editorial (S. 5–8)

Sexualwissenschaft und Psychoanalyse entstanden als neue Denkstile der Moderne gleichzeitig an der Schwelle zum 20. Jahrhundert vornehmlich im deutschsprachigen Raum. Zwischen beiden Feldern gibt es zahlreiche Gemeinsamkeiten und Verflechtungen, nicht nur im Hinblick auf Themen, Personen und Organisationen, sondern insbesondere auch auf ihr Selbstverständnis als vollwertige und eigenständige medizinische Subdisziplinen; und nicht zuletzt war die Mehrheit der Protagonist*innen hier wie dort jüdischer Herkunft. Aufgrund des virulenten zeitgenössischen Antisemitismus, aber auch aufgrund ihres zentralen Erkenntnisgegenstandes, der als nicht wissenschaftswürdig betrachteten menschlichen Sexualität, hatten beide Fächer – trotz intensiver Bemühungen – gleichermaßen Schwierigkeiten, in akademischen Institutionen Fuß zu fassen. Das war der Fall, obwohl sie ihren wissenschaftlichen Anspruch durch die Herausbildung eines eigenständigen Korpus von Monografien und Fachzeitschriften, die Entwicklung therapeutischer Konzepte sowie die Gründung nationaler und internationaler Fachorganisationen unter Beweis stellten. Dennoch blieb beiden die Integration in den universitären Betrieb zumindest in Deutschland bis 1933 (und natürlich auch darüber hinaus) verwehrt.

Andererseits gab es auch Unterschiede zwischen den beiden Fächern. Die Reichweite ihres Anspruchs, zum Verständnis des modernen Subjekts beizutragen, war verschieden. Und während die Sexualwissenschaft eher naturwissenschaftlich-deterministisch vorging, dominierte in der Psychoanalyse ein deutend-hermeneutisches Verfahren. Differenzen gab es ferner hinsichtlich des sexualpolitischen Engagements für eine Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse, der sexualaufklärerischen und -beraterischen Tätigkeit in der Breite der Gesellschaft und, nichtzuletzt, des therapeutischen Verfahrens. Besonders in der Frage nach der Erklärung, Bewertung, Therapiewürdigkeit und Therapierbarkeit der Homosexualität und den sich daraus ergebenden strafrechtlichen Konsequenzen zeigten sich erhebliche Meinungsverschiedenheiten, die zu Abgrenzungsbewegungen führten.

Während die Akademisierung der beiden Fächer auf Schwierigkeiten stieß, verliefen der globale Transfer und die Verbreitung ihrer Konzepte sehr viel erfolgreicher, wenn auch in einer unorthodoxen Form. Im Blick auf die internationale Rezeption ergibt sich – verglichen mit Deutschland – ein vielschichtigeres Bild, wie der Beitrag von Veronika Fuechtner zeigt. So wurde auf die hierzulande praktizierte Abgrenzung zwischen Sexualwissenschaft und Psychoanalyse im Ausland häufig kaum Wert gelegt. Vielmehr griff man auf die Wissensbestände beider Disziplinen zurück, die als Folie zur Deutung der modernen Individuierung weitergetragen wurden und entsprechend den jeweiligen kulturellen und gesellschaftspolitischen Bedingungen neue Kombinationen und Auslegungen erfuhren. Dazu bedurfte es wegen des umfangreichen Fachvokabulars beider Disziplinen mit seinen je spezifischen Bedeutungsaufladungen einer Übersetzungsleistung. Birgit Lang und Katie Sutton nutzen für deren Darstellung den Ansatz der (Ver-)Handlungsräume, die sie am Beispiel internationaler Kongresse sowie deutsch-englischer Organisationen und Zeitschriften in der Zwischenkriegszeit aufzeigen. Einher mit dieser Amalgamierung der Wissensbestände ging ihre Popularisierung im englischsprachigen Raum, insbesondere in den USA, wo weniger Fragen der sexuellen Diversität als vielmehr die Sexualität der breiten Bevölkerung im Vordergrund der Aufmerksamkeit stand.

Am Beispiel der experimentellen Hormonforschung beschreibt Heiko Stoff, wie stark biomedizinische Forschungsbefunde gleichermaßen die Ansichten über die Geschlechterdifferenzen zwischen Männern und Frauen wie die Erklärung sexueller Vielfalt in Sexualwissenschaft und Psychoanalyse beeinflussten, wobei jedoch die Unterschiede zwischen beiden Denkrichtungen hinsichtlich der (In-)Flexibilität und Dynamik der Sexualentwicklung (bis heute) nicht überbrückt werden konnten.

Auch Richard Kühl befasst sich in seinem Beitrag mit der Naturalisierung der Geschlechterbilder in Sexualwissenschaft und Psychoanalyse, und zwar in Bezug auf den Triebbegriff oder genauer: den weitgehend essentialisierten und damit unhinterfragt legitimierenden männlichen Sexual- und Aggressionstrieb. Aus dieser Perspektive erfolgte gegen Ende der Weimarer Zeit über die von links bis ultrarechts reichenden politischen Lager hinweg eine heute kaum mehr verständliche Apologetik sexueller Gewalt, die etwa in der Erinnerungsliteratur an den Ersten Weltkrieg eine prominente Rolle spielte.

Anhand der Rezeption psychoanalytischer Schriften im wissenschaftlich maßgeblichen Organ der Homosexuellenbewegung, dem von Magnus Hirschfeld herausgegebenen Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, geht Kevin Dubout den Gründen für das spannungsreiche Verhältnis zwischen Psychoanalyse und (Homo-)Sexualwissenschaft nach. Er greift insbesondere auf die Kritiken des „Hausrezensenten“ Eugen Wilhelm zurück, der die psychoanalytischen Schriften von Anfang bis Ende des Erscheinens des Jahrbuchs auf ihre Kompatibilität mit Hirschfelds Zwischenstufentheorie hin überprüfte. Dabei standen die Verwertbarkeit der Schriften für
die Entpathologisierung der Homosexualität und das sexualpolitische Ziel der Abschaffung ihrer Kriminalisierung in Gestalt des §175 RStGB sowie die sich jeweils ergebenden Therapieoptionen im Vordergrund.

Schließlich geht Raimund Wolfert am Beispiel der Biografie und Werkanalyse des um die Rechte Homosexueller nach dem Zweiten Weltkrieg kämpfenden Werner Becker auf die durch die Weitergeltung des im Zuge der Reichgründung 1872 eingeführten und in der NS-Zeit (1935) verschärften Paragraphen 175 nach wie vor prekäre Situation Homosexueller in der Bundesrepublik bzw. Westberlin ein und in diesem Zusammenhang auf die Schwierigkeiten, an die sexualwissenschaftlichen und -politischen Positionen Magnus Hirschfelds anzuknüpfen. Mit Beckers psychoanalytischer Ausbildung in Kanada in den 1950er-Jahren und seiner späteren Übernahme der Leitung des Berliner Psychoanalytischen Instituts fand dieses Engagement nicht nur ein abruptes Ende, sondern wurde bewusst verschwiegen, vermutlich, weil in der Bundesrepublik Homosexuelle weiterhin gesellschaftlich geächtet und nicht zur psychoanalytischen Ausbildung zugelassen waren. Insofern fanden, wie Beckers Schicksal zeigt, die aus ihrer Gründerzeit herrührenden Friktionen zwischen Sexualwissenschaft und Psychoanalyse auch nach 1945 in der Bundesrepublik ihre Fortsetzung.

Aus der Forschung
In dieser Rubrik findet sich der detailreiche Beitrag von Edith Schütz und Thomas Müller, der sich den psychoanalytischen Behandlungsregeln widmet, und zwar besonders eingehend dem Abstinenzprinzip und der Übertragung, ihrer Bedeutungen und Funktionen.

Paolo Raile widmet seinen Beitrag den Machtstrukturen in der psychoanalytischen Bewegung. Im Mittelpunkt stehen die Kontroversen mit ihren ungeschrieben Regeln, wie In- und Exklusionen aus psychoanalytischen Gremien und Vereinigungen, und zwar am Beispiel des Zentralblatts für Psychoanalyse in den 1910er-Jahren.

Marina D’Angelo geht den Spuren Dantes in Freuds Werk nach und entdeckt nicht nur Parallelen zwischen Dantes Jenseitsfahrt und der Entstehung der Traumdeutung, sondern auch solche zwischen der Funktion Vergils als Reisebegleiter und der des Analytikers in der Therapie.

Kleine Mitteilungen
Richard Skues setzt mit seinen »Anmerkungen zum Kassa-Protokoll« den Dialog mit Christfried Tögel fort, der sich im letzten Heft (71) zu dessen Autorenschaft geäußert hatte. Andreas Seeck antwortet mit einem Kommentar auf Erwin Kaisers ebenfalls im letzten Heft veröffentlichten Beitrag „Der Einfluss von Franz von Brentano auf Freuds Denken – eine überschätzte Beziehung«.

Knuth Müller stellt den von Konstanze Zinnecker-Mallmann herausgegebenen Eissler-Band „Männer und Militär. Psychoanalyse der US-Armee als Institution im Zweiten Weltkrieg“ (Frankfurt a. M., 2021) vor dem Hintergrund von Eisslers biografischen Erfahrungen in der Emigration ausführlicher vor. Und Anthony D. Kauders würdigt in seinem Buch-Essay Michael Schröters gerade erschienene Monografie „Auf eigenem Weg. Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland bis 1945“ (Göttingen 2023).

Schließlich hält Katarzyna Swita Nachlese zum 36. Symposion zur Geschichte der Psychoanalyse, das 3. bis 5. März 2023 in der IPU-Berlin erstmals als Hybrid-Veranstaltung in Präsenz und Online stattfand.

Rezensionen
Buchbesprechungen und Literaturanzeigen beschließen das Heft.
Rainer Herrn