Heft 68 (34. Jg. 2021): Prag I – Die Psychoanalyse in der Tschechoslowakei 1933–1970

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Editorial (S. 5-6)

Die Psychoanalyse hat sich in der Tschechoslowakei zunächst zögerlich entwickelt. Vor dem Ersten Weltkrieg fanden nur wenige Personen den Weg nach Wien. Nach der Gründung des eigenen tschechoslowakischen Staates 1918 gab es zwar vereinzelte Ansätze psychoanalytischen Wirkens in der Ostslowakei (Košice) und an der Karls-Universität in Prag, aber erst mit der Emigration von Mitgliedern der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft 1933 entstand in Prag eine Gruppe, die eine Ausbildung in Psychoanalyse ermöglichte. Mit dem Zweiten Weltkrieg und der Besetzung der Tschechoslowakei durch die Nationalsozialisten wurde diese erste Blütezeit abgewürgt. Nach dem Krieg gab es ein dreijähriges Wiederaufleben der Psychoanalyse, bevor sie 1948 nach der stalinistischen Machtübernahme für Jahrzehnte nur im Untergrund betrieben werden konnte. LUZIFER-AMOR widmet sich in zwei Heften der Geschichte der Psychoanalyse in Prag und der Tschechoslowakei von den Anfängen bis ca. 1970. Das vorliegende Heft behandelt in vier Aufsätzen die Frühzeit der Psychoanalyse in der ?. S. R. und das Wirken und Leben von drei Protagonisten.

Michael Giefer beschreibt die erste Blütezeit der psychoanalytischen Bewegung in Prag von 1933 bis 1939, die durch die Emigration von PsychoanalytikerInnen aus Berlin bewirkt wurde. In diesen sechs Jahren entstand unter der Leitung zuerst von Frances Deri und dann von Otto Fenichel eine Arbeitsgruppe, in der nicht nur Deutsche und Tschechoslowaken eine psychoanalytische Ausbildung erhielten, sondern die auch in Teilen der Bevölkerung das Interesse an der Psychoanalyse gewann. Zur Prager Arbeitsgruppe gehörte der aus der Slowakei stammende Arzt Emanuel Windholz, der Ende 1938 nach San Francisco flüchtete. Zuvor konnte er formell Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse werden. Michael Šebek stellt in seinem Artikel nicht nur Windholz’ Entwicklung in Prag dar, sondern auch seine spätere Tätigkeit in den USA, wo er ein geschätzter Lehrer der Psychoanalyse wurde.

Der eigentliche Fels in der Brandung für die tschechoslowakische Psychoanalyse sollte über Jahrzehnte Theodor (Bohodar) Dosužkov werden. Seine Tochter, Eugenia Fischer, selbst Psychoanalytikerin in Frankfurt am Main, beschreibt seinen Lebenslauf. Ausgebildet in der Prager Arbeitsgruppe, überlebte er den Krieg in Prag, versammelte bereits in dieser Zeit eine Gruppe junger Studenten um sich, gründete 1946 die Arbeitsgruppe neu und leitete sie ab 1949 im Untergrund. Er war Lehranalytiker zahlreicher tschechoslowakischer Analytiker. Einer seiner frühen Schüler war der Kinderpsychiater Otakar Kucera, der 1948 als direktes Mitglied der IPA anerkannt wurde. David Holub macht die Leser mit Ku?eras Aktivitäten bekannt. Ku?era war über sein Interesse an der Lyrik Baudelaires und der nachfolgenden Symbolisten auf das Phänomen der Regression gestoßen und darüber zur Psychoanalyse gekommen. In den 1960er-Jahren hat er sich auch mit der Auswirkung von LSD auf die Regressionsprozesse in Analysen befasst.

Jenseits des Schwerpunktthemas teilt uns Albrecht Hirschmüller seine Forschungsergebnisse zu Maggie Haller, einer Patientin von Freud, mit, auf die er bei der Edition von Freuds Notizbüchlein gestoßen war. Wir erfahren von ihm nicht nur viel über das Leben der jungen Hamburgerin und ihrer Familie, über ihre Bekanntschaft mit Wilhelm Fließ, ihre Leidensgeschichte und Freuds Umgang mit ihr, sondern können auch Einblick in die Recherchearbeit von Hirschmüller nehmen.

Ähnlich reichhaltig und akribisch sind die Recherchen zu Elisabeth Naef, deren Ergebnisse Thomas Kurz vorlegt. Über die aus Weißrussland stammende langjährige Mitarbeiterin in der Ambulanz des Berliner Instituts war bisher nur wenig bekannt. Kurz hat zahlreiche Quellenhinweise entdeckt und ausgewertet, zum Beispiel in Fenichels Tageslisten und im Tagebuch des SPD-Journalisten Lothar Erdmann, durch die ihre Persönlichkeit Konturen gewinnt. Nicht zuletzt vermag er ihren Selbstmord 1934 zumindest teilweise verständlicher zu machen.

In einer weiteren Forschungsarbeit stellt Georg Augusta den dritten Teil seiner Untersuchungen über das Verhältnis von Psychoanalyse und Psychiatrie in Österreich vor. Schwerpunkt ist diesmal die überraschend lebhafte Rezeption der Psychoanalyse im Akademischen Verein für medizinische Psychologie und im Verein für angewandte Psychopathologie und Psychologie in den 1920er- und 1930er-Jahren.

In der Rubrik »Kleine Mitteilungen« informiert Katarzyna Swita als neue Berichterstatterin über das 34. Symposion zur Geschichte der Psychoanalyse, das wegen der Corona-Pandemie per Zoom abgehalten werden musste. Rezensionen und Literaturanzeigen beschließen auch dieses Heft.

Arkadi Blatow hat wieder die Zeitschriftenschau zur Geschichte der Psychoanalyse in deutschsprachigen Zeitschriften für 2020 erstellt, die auf der Webseite von LUZIFER-AMOR einsehbar ist.

Kaspar Weber, unerreichter Kenner der Geschichte der Psychoanalyse in der Schweiz, ist aus Altersgründen vom Beirat der Zeitschrift zurückgetreten. Wir danken ihm für seine treue Unterstützung.

Michael Giefer