Heft 69 (35. Jg. 2022): Freud-Patienten II – Aus den Eissler-Interviews in der Library of Congress

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Editorial (S. 5–7)

Die im Frühjahr 2017 erfolgte online-Publikation des immensen Schatzes der Sigmund Freud Papers in Washington brachte einen zweifachen Forschungsschub: in Bezug auf 1. die Manuskripte und Briefe Freuds sowie 2. die Transkripte der Interviews von Kurt R. Eissler mit allen ihm bekannten und erreichbaren Menschen, die mit Freud in Kontakt gekommen waren. Es liegt auf der Hand, dass unsere Zeitschrift, die sich nicht zuletzt die Freud-Biographik auf ihre Fahnen geschrieben hat, versuchen musste und muss, möglichst viel von diesem Schub einzufangen. So wurde vor drei Jahren in Heft 63 neues Material zu dem Freud-Aufsatz »Psychoanalyse und Telepathie« vorgestellt und verwertet. Das vorliegende Heft greift denselben Impuls auf, diesmal konzentriert auf die zweite der erwähnten Forschungsebenen. Es war angekündigt worden unter dem Titel »Eissler-Interviews in der Library of Congress«. Dann aber stellte sich heraus, dass sich zwei der akquirierten Aufsätze auf Patienten Freuds bezogen und dass auch im dritten eine Patienten-Behandlung eine Hauptrolle spielte. Deshalb wurde dieser inhaltliche Aspekt als Haupttitel gewählt. Er spiegelt den Sachverhalt wider, dass die Erforschung von Freuds Praxis, neben der intimeren Familiengeschichte und übergehend in das breitere Wiener Netzwerk, in dem Freud lebte und arbeitete, der wichtigste Bereich ist, über den die jetzt allgemein zugänglichen Eissler-Interviews neue Aufschlüsse geben.

Im ersten Schwerpunkt-Beitrag beschäftigt sich Georg Augusta mit zwei Patientinnen Freuds aus den 1890er Jahren. Von der ersten, Olga Hönig, der Mutter des »Kleinen Hans«, war im Prinzip (aber nicht im Detail) bekannt, dass sie bei Freud in Analyse gewesen war; den zweiten Namen, Helene Stiasny, führt Augusta erstmals in die Freud-Forschung ein. Bei beiden jungen Frauen nahm Freud aktiven Einfluss auf ihre Eheschließungen. Man ersieht daraus wieder einmal, dass er in seiner Praxis viel mehr dem Verhaltensmuster eines »normalen« Nervenarztes/Psychotherapeuten folgte, als seine technischen Aufsätze zu erkennen geben. – Alfred Robitsek, den Thomas Aichhorn vorstellt, repräsentiert die untergegangene Welt des reichen jüdischen Bürgertums im Fin de Siècle-Wien, aus dem Freud viele seiner Patienten gewann. Zwei Dinge prägen sich besonders ein: dass Robitsek als Student einen Kommilitonen, mit dem er sich um eine Frau stritt, unglücklich im Duell tötete, was er mit Festungshaft büßen musste; und dass er ein passionierter Amateur-Forscher im Bereich der Traum- und Symboldeutung wurde, was Freud dadurch würdigte, dass er einen Beitrag von ihm in sein Traumbuch aufnahm. – Ein besonders langes und reizvolles Stück im Bestand der Eissler-Interviews ist das Gespräch mit Ans van Mastrigt, der langjährigen Ehefrau des holländischen Analytikers Johan van Ophuijsen, die in den Jahren 1911/12 mit ihrer Stiefmutter eine reiche psychotische Dame aus Den Haag, Nel van der Linden, zur Behandlung bei Freud nach Wien begleitete und Anschluss an dessen Familie fand. In den Auszügen, die Anna Bentinck van Schoonheten präsentiert, finden sich interessante Informationen über Freuds Umgang mit dieser Patientin, aber auch prägnante Einblicke in sein Familienleben und spitzzüngige Äußerungen über einige Freud-Schüler der ersten und zweiten Generation. – Abgerundet wird der Schwerpunkt durch einen Beitrag, in dem Albrecht Hirschmüller generell die Probleme des Schutzes der Patienten-Anonymität bei der Verwendung von Archivmaterial erörtert. Es ist erfreulich und hilfreich, dass hier ein prominenter Vertreter der Denkrichtung, die diesen Schutz sehr hoch ansetzt, die Gelegenheit zur sorgfältigen Darlegung seines Standpunktes genutzt hat.

In der Rubrik »Aus der Forschung« kommt wieder einmal die enge Verbundenheit unserer Zeitschrift mit dem von ihr mit-ausgerichteten Symposion zur Geschichte der Psychoanalyse zum Ausdruck. Vier Stücke wurden zuerst als Vorträge dort vorgelegt. Zuerst die Untersuchung von Freuds Anmerkungen zu seiner Übersetzung der Poliklinischen Vorträge Charcots durch Jean-Daniel Sauvant, der das Unerhörte, gar »Unverschämte« dieses Vorgehens akzentuiert, zumal Freud in seinen Kommentaren nicht mit Eigenwerbung und Kritik sparte. – Sabine MeierZur greift russische Forschungen über die Pionierin der Psychoanalyse-Rezeption in St. Petersburg, Tatjana Rosenthal, auf und beleuchtet u. a. anhand eines neuentdeckten Gedichtbandes ihre Verbindungen mit dem russischen Symbolismus. – Herman Westerink bietet eine neue Interpretation von Freuds Spätwerk über den Mann Moses, die ihre Überzeugungskraft besonders daraus bezieht, dass er sich auf die rezente Rekonstruktion der Erstfassung von 1934, die durch die eingangs erwähnte online- Publikation Freud?scher Handschriften ermöglicht wurde, und damit auf ein genaues Bild von der Entstehungsgeschichte des Werks, die zuvor im Dunkeln lag, stützen kann. Er gelangt zu dem Ergebnis, dass Freud zunächst eine Analyse des Charakters von Moses und dem jüdischen Volk angestrebt hatte. Die Betonung des durch den Mord an Moses bewirkten kollektiven Traumas, durch die Freuds Arbeit zu einer Fallstudie analog seinen Krankengeschichten wurde, gehört erst der letzten Bearbeitungsstufe an. – Claudia Frank schließlich präsentiert und erörtert ein weiteres unpubliziertes Manuskript aus dem Melanie-Klein-Archiv, diesmal ein »Statement on Training« von 1944. Klein beschreibt darin, welche Fähigkeiten der Kandidat ihrer Ansicht nach erworben haben sollte, bevor er zum nächsten Schritt seiner Ausbildung zugelassen wird. Sie betont das gleichzeitige Erfordernis einer empathischen und einer quasi wissenschaftlich distanzierten Haltung und erkennt, anders als vielfach angenommen, der Gegenübertragung eine große Bedeutung zu.

Eingeschoben in die Reihe der freien Beiträge ist ein Vorabdruck aus Michael Schröters Buch zur Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland, der sich mit Leopold Löwenfeld als einem wenig beachteten Pionier der Freud-Rezeption ab 1896 beschäftigt und damit eine Forschungslücke füllt. – Der letzte Beitrag krönt die Serie der Fotobetrachtungen, die Michael Molnar auf Anregung von LUZIFERAMOR in den Jahren 2004?2010 verfasst und danach in englischer Fassung zu einem Buch zusammengestellt hat. Die beiden für das Buch neugeschriebenen Texte handeln von Oliver Freud und seiner Tochter Eva, die 1944 in Nizza an den Folgen einer Abtreibung starb. Der zweite Text imponiert als der reichhaltigste von allen Foto-Essays des Autors überhaupt; er wird hier auf Deutsch abgedruckt. Molnar verwebt darin biographische Details, Quellenfunde, Exkurse zur Forschungsgeschichte, sozial-, kultur- und theoriegeschichtliche Seitenblicke, medientheoretische Reflexionen zur Photographie und geschichtsphilosophische Überlegungen in einzigartiger Weise zu einem Text, den man nicht weiter charakterisieren, sondern nur zur Lektüre empfehlen kann.

Ansonsten berichtet Hans-Joachim Rothe von der Tagung des Archiv-Vereins, auf der Hirschmüller seinen hier wiedergegebenen Vortrag hielt. Wie immer folgen Rezensionen und Referate.
 

Zuletzt noch ein Wort in eigener Sache. LUZIFER-AMOR präsentiert sich mit diesem Heft in neuer Gestalt: Das Format wurde vergrößert, das Layout großzügiger gestaltet, der Umfang erweitert. Diese Änderungen hat der Verlag eingeführt – verbunden mit einer kräftigen Preiserhöhung, die erforderlich wurde, um die Zeitschrift, deren Abonnentenzahl abnimmt, aus den roten Zahlen herauszuführen. Wir als Herausgeber können diese Entwicklung nur mit Bedauern hinnehmen, wollen aber an unsere Leser appellieren, dass sie uns trotzdem die Treue halten. Vielleicht hilft es manchen, die Preiserhöhung zu akzeptieren, wenn sie ihr Abonnement ein wenig auch als mäzenatischen Beitrag zur Pflege des Feldes der Psychoanalysegeschichte verstehen, das ohne LUZIFER-AMOR nicht so aktiv und lebendig bleiben könnte, wie es sich seit Jahrzehnten zeigt.

Michael Schröter