Heft 48 (24. Jg. 2011): Biographische Studien und Dokumente
Editorial (S. 7–8)
Die Themenschwerpunkte der Hefte von LUZIFER-AMOR werden gewöhnlich nicht aktiv konzipiert, sondern in Reaktion auf die Forschungslage, soweit der Herausgeber sie kennt, bestimmt. Dabei werden eingegangene Manuskripte und laufende Arbeitsprojekte berücksichtigt, aber ergänzend auch Autoren zu Arbeiten angeregt, oft in Verbindung mit dem Angebot, ihnen einzelne Quellenstücke zur Auswertung verfügbar zu machen. Manchmal jedoch will sich die gegebene Lage nicht zu einem klaren Thema konstellieren. Das war beim vorliegenden Heft der Fall. Es hätte auch einfach, wie die Rubrik der nicht themengebundenen Beiträge in jedem Heft, "Aus der Forschung" heißen können. Da der größere Teil des aufzunehmenden Materials einen dezidiert biographischen Bezug hat (was natürlich für viele Beiträge in LUZIFER-AMOR gilt), konnte letztlich ein etwas profilierterer Titel gewählt werden.
Die Schwerpunkt-Beiträge gliedern sich in zwei Gruppen. Drei Texte gehören zur Freud-Biographik. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie einen Quellenkomplex präsentieren, der es verdient, zwar nicht in der Form einer schulgerechten Edition, aber doch mit ausführlichen Zitaten vorgestellt zu werden. Der erste bringt Exzerpte aus einem Interview, das K. R. Eissler mit Hans Lampl, einem Freund der Freud-Kinder, geführt hat. Der Charme von Lampls Erzählung liegt darin, dass Freud hier mit den Augen eines Jugendlichen gesehen wird, ohne die mythische Aura, die "der Professor" in der psychoanalytischen Bewegung gewann. Wer hat bisher so respektlos den zivilisatorischen Abstand zwischen Freud, dem Sohn eines ostjüdischen Migranten, und seiner Frau, einer Tochter aus dem Hamburger jüdischen Bürgertum, beschrieben? Nebenbei lässt die Quelle erkennen, welche Schätze das von Eissler für die Freud Archives zusammengetragene bzw. in der Form von Interviews oder schriftlichen Erinnerungen gezielt evozierte Material noch birgt. Die vielgescholtenen Sperrfristen, mit denen es belegt wurde und die allmählich auslaufen, haben den ungeplanten Effekt, dass die Freud-Biographik von Jahr zu Jahr neue Impulse durch neu auftauchende Quellen erhält.
Ein zweites Dokument von Eisslers uneigennützigem Forscherdrang – oder vielmehr ein ganzes Dokumentencorpus – stellt Christfried Tögel vor. Es bezieht sich auf die erfolgreiche Suche nach der Identität von Freuds Patientin "Emmy von N." aus den Studien über Hysterie. Die betreffenden Recherchen des norwegischen Analytikers Ola Andersson wurden von Eissler angeregt und finanziert, weil er es für hochbedeutsam hielt, Freuds analytische Praxis nicht nur aus seinen Schriften, sondern auch aus direkten, didaktisch unaufbereiteten Zeugnissen kennenzulernen. Heute sind die Objekte von Freuds großen Krankengeschichten fast alle namentlich bekannt. Tögels Beitrag vermittelt eine Vorstellung von dem detektivischen Elan, der bisweilen für diese Klärung erforderlich war. – Die Briefe Anton v. Freunds an Freud, von denen Andrea Huppke und Michael Schröter lange Auszüge darbieten, geben Aufschluss über die Behandlungen, die v. Freund und seine Frau bei Freud durchmachten, und lassen den Leser die Aufregungen von 1918/19 miterleben, als der Psychoanalyse ein großer Aufbruch zu blühen schien, der durch die politische Entwicklung in Ungarn zunichte wurde. Hinter dem Brauereibesitzer und Mäzen, als der v. Freund bekannt ist, tritt ein Mann hervor, der sich leidenschaftlich für die Psychoanalyse engagierte und den Freud als tatkräftigen Freund schätzte.
Drei weitere biographische Texte behandeln Vertreter der Generationen nach Freud. Stefan von Minden ließ sich durch die Hundertjahrfeier des Psychoanalytischen Kongresses in Weimar (die am 18. September 2011 mit der Enthüllung einer Gedenktafel begangen wurde) dazu anregen, zwei bisher nicht oder falsch identifizierte Teilnehmer an diesem Kongress zu bestimmen. Katharina Eva Keifenheim stellt Hans von Hattingberg vor, einen Repräsentanten der breiteren Psychotherapeutenszene, der eine Zeitlang Anschluss an die organisierte Psychoanalyse suchte und fand. Sie befasst sich besonders mit seiner Tätigkeit zur Zeit des Dritten Reichs, als Hattingberg Karriere machte, ohne sich mit dem Nationalsozialismus zu identifizieren. Harry Stroeken erinnert an den Hamburger Analytiker August Watermann, der als Jude 1933 nach Holland emigrierte und mit Frau und Sohn in Auschwitz ermordet wurde.
Der Beitrag von Gerhard Fichtner und Albrecht Hirschmüller, der die Rubrik "Aus der Forschung" eröffnet, führt wieder zur Sammlung der Freud Archives in Washington zurück. Die Autoren entdeckten dort eine Serie von kleinen Notizbüchern, in denen Freud Adressen, Ereignisse, Zitate, aber auch klinische Beobachtungen und glückliche theoretische Formulierungen verzeichnete. Die Notate geben einen kleinen Einblick in das rastlose Getriebe eines ebenso großen wie disziplinierten Geistes. Ernst Falzeder wirft einen frischen Blick auf die Beziehung zwischen Freud und Jung und vertritt die überraschende These, dass sich Freud, und sei's im Widerspruch, mehr von Jung hat beeinflussen lassen als umgekehrt.
In einem Rezensionsessay würdigt Werner Bohleber Simone Bleys Biographie von Felix Schottlaender, die eine der Gründerfiguren der Nachkriegspsychoanalyse in Deutschland dem Vergessen entreißt.