Heft 52 (26. Jg. 2013): Eröffnung des Vereinskriegs.
Der psychoanalytische Kongress in München 1913
Editorial (S. 7-9)
Jeder psychoanalytische Kongress von 1908 bis 1938 hatte ein spezifisches Gepräge. Das gilt auch für den vierten, der am 7.–8. September 1913 in München stattfand. Auf ihm trat der Konflikt zwischen Freud und Jung bzw. zwischen Wien und Zürich mit offener Schärfe hervor. Freud und die Seinen arbeiteten seitdem auf eine Trennung hin. Ein Reflex des Konflikts war, dass von dem Münchener Treffen nie ein ausführlicher Bericht erschienen ist. Die Entdeckung des Torsos eines solchen Berichts bot den Anlass, ein Symposion zur Hundertjahrfeier des Kongresses am Ort des Geschehens, dem Hotel Bayerischer Hof, zu veranstalten. Es fand am 27. April 2013 statt, als gemeinsames Unternehmen des Forums der Psychoanalytischen Institute Münchens und der Redaktion von LUZIFER-AMOR. Die Beiträge zum Symposion, teilweise in ausgearbeiteter Form, bilden den Themenschwerpunkt des vorliegenden Hefts. Nur das Papier von Ulrike May über die Frage "Gab es wirklich gute Gründe für die Einführung der sadistisch-analen Phase? Zu Freuds Vortrag auf dem Münchner Kongress 1913" wird nicht abgedruckt, da es sich in der Sache mit einer früheren Publikation in Heft 47 dieser Zeitschrift überschneidet.
Zur Eröffnung beleuchtet Astrid Brundke das lokale Umfeld, in dem sich der Kongress abspielte, zentriert um den Gründer der Münchener IPV-Gruppe Leonhard Seif. Dieser nahm 1909 mit Jung Kontakt auf, der ihn bei mehreren Zürich-Aufenthalten in die Psychoanalyse einführte, einschließlich einer eigenen Analyse. Er kämpfte für Freud im 1909 gegründeten Internationalen Verein für medizinische Psychologie und Psychotherapie. Im Freud-Jung-Konflikt schwankte er hin und her, trat aber mit Jung 1914 aus der IPV aus. – Der Beitrag von Michael Schröter basiert auf dem erwähnten Kongressbericht von Franz Riklin, der elf Autoreferate aus der Reihe der 19 Kongressvorträge enthält; er wird mit einem zweiten am Ende des Themenschwerpunkts erstmals publiziert. Die Spannung zwischen Wien und Zürich war in München allgegenwärtig, beginnend mit zwei geplanten antagonistischen Referaten über "Die Funktion des Traums". Zum einzigen Mal bei einem IPV-Kongress wurden inhaltliche Diskussionen aufgezeichnet. Die Protokolle machen deutlich, wie sehr die Züricher Anschauungen von der Rücksicht auf die psychotherapeutische Aufgabe bestimmt waren, und markieren den Punkt, an dem Freud die "Vaterschaft" für diese Neuerungen verleugnete.
Die folgenden drei Aufsätze erörtern einzelne herausragende Referate, die in München gehalten wurden. Roman Lesmeister betrachtet Jungs Text über "Psychologische Typen". Durch die Aufstellung des Gegensatzes zwischen einem "introvertierten" und einem "extravertierten" Denk- und Persönlichkeitstyp sei es Jung gelungen, seine "Andersheit" gegenüber Freud zu bestimmen und als nicht-neurotisch zu verteidigen. Seine "symbolische", "introvertierte" Deutung des Ödipuskomplexes verdiene im Licht des Konzepts der "Nachträglichkeit" neue Aufmerksamkeit. – Von Victor Tausks verschollener Arbeit über den Narzissmus hat sich in Riklins Bericht ein Autoreferat erhalten. Manfred Klemann und Inge Weber rekonstruieren die Entstehungsgeschichte des Vortrags, bei dem archivalischen Quellen zufolge Lou Andreas-Salomé als Ko-Autorin fungierte, und tragen andere Äußerungen von Tausk zusammen, um dessen Konzepte herauszuarbeiten, so etwa den Gedanken, dass die Identifikation die für den Narzissmus charakteristische "Mechanik der psychischen Bewältigung der Außenwelt" sei. – Mit Ferenczis Vortrag über "Glaube, Unglaube und Überzeugung" befasst sich Herbert Will. Anknüpfend an die frühere Arbeit über den Wirklichkeitssinn postuliert Ferenczi, dass in der kindlichen Entwicklung auf die Phase der Allmacht die eines autoritären Glaubens folge. Die Reife sei erreicht, wenn sich Überzeugungen auf Erfahrung gründen, eine Idee, die er schon 1913 mit der anderen verband, dass die psychoanalytische Kur durch affektive Erlebnisse wirke.
Ganz anders als der Münchener war zwei Jahre zuvor der Weimarer Kongress verlaufen, den Andreas Peglau und Michael Schröter vorstellen. Obwohl nicht frei von Spannungen – Magnus Hirschfeld trat danach aus der IPV aus –, imponierte er im Rückblick als eine Oase der Ruhe im Sturm. Eugen Bleuler und der Harvard-Neurologe James J. Putnam beehrten ihn mit ihrer Gegenwart; aus den Vorträgen gingen mehrere wichtige Publikationen hervor. Spezifisch für das wissenschaftliche Programm war ein dezidiertes Ausgreifen auf die Felder nicht-klinischer Anwendung der Psychoanalysye, vor allem die Mythologie. Nicht zuletzt wird in dem Aufsatz der Photograph Franz Vältl als Urheber des berühmten Weimarer Kongressphotos identifiziert.
Ein Buch-Essay von Werner Bohleber würdigt die neue Edition des Briefwechsels zwischen Freud und Bleuler. – Hartmut Heyck, ein Urenkel von Wilhelm Jensen, dokumentiert den Vorabdruck der Gradiva 1902 in der Neuen Freien Presse. – Harry Stroeken korrigiert die Fehl-Identifizierung einer Freud-Patientin in einem früheren Beitrag für LUZIFER-AMOR.
Zuletzt sei darauf hingewiesen, dass die vorzügliche, aber bisher schwer zugängliche Dissertation von Annatina Wieser über die Frühgeschichte der Psychoanalyse in Zürich (2001) in der download-section der Website www.luzifer-amor.de zur Verfügung gestellt worden ist.
In eigener Sache
Der letzte Teil dieses Editorials durchbricht die Routine und ist in der Ich-Form gehalten, weil er mich persönlich betrifft. Ich habe LUZIFER-AMOR im Frühjahr 2004 übernommen und bis jetzt zwanzig Hefte herausgebracht – die längste Herausgeberschaft in der Geschichte der Zeitschrift, abgesehen von der Tätigkeit ihres Gründers Gerd Kimmerle. In meine "Amtszeit" fiel ein Wechsel des Verlags. Die Zeitschrift erreichte ihr 50. Heft, das mit einem Gesamtregister aller bisherigen Hefte gefeiert wurde.
Im Vorfeld des Jubiläums stellte sich mir die Frage nach der Zukunft. Ich nähere mich einem Alter, in dem man nicht mehr ins Offene lebt; und ich habe den Wunsch, die redaktionelle Arbeit, die eine Dienstleistung für andere ist, zugunsten eigener Projekte zu reduzieren. Außerdem hat jeder Herausgeber nur ein begrenztes Spektrum von Themen, die er bespielen kann, was einer Zeitschrift auf Dauer nicht gut tut. Es hätte sich angeboten, die Wegmarke des 50. Hefts zu nutzen, um die Herausgeberschaft niederzulegen, was wohl das Ende von LUZIFER-AMOR bedeutet hätte. Aber vorher wollte ich sehen, ob sich jemand fände, der jünger ist als ich, der die bisherige Linie der Zeitschrift unterstützt, der neue Themen finden und neue Autoren gewinnen kann, der zu mir passt und bereit ist, die Arbeit der Herausgabe mit mir zu teilen, sie vielleicht sogar irgendwann allein zu besorgen. Mir fiel nur ein Kandidat ein – paradoxerweise mein Vorgänger Ludger M. Hermanns. Ich fragte ihn, und es fügte sich, dass er aus dem Jahrbuch der Psychoanalyse, für das er elf Jahre lang tätig war, ohnehin ausscheiden wollte. Zu meiner großen Freude sagte er zu.
Die Ära unserer gemeinsamen Herausgeberschaft beginnt im nächsten Jahr. Geplant ist, dass jeder von uns alternierend für ein Heft verantwortlich ist. Heft 53 wird demnach von mir, Heft 54 von Ludger Hermanns betreut. Um die Arbeit auf noch mehr Schultern zu verteilen, haben wir Michael Giefer die Zuständigkeit für den Rezensionsteil angeboten; wir sind sehr froh, dass er zugestimmt hat. Last but not least wollen wir ein gewisses Revirement im Editorial Board durchführen.
Wir beide, Ludger Hermanns und ich, sind uns bewusst, dass das Interesse an der Geschichte der Psychoanalyse, von dem LUZIFER-AMOR lebt, im Kern an eine bestimmte Generation gebunden ist. Wir hoffen aber, dass es uns durch die angebahnten Veränderungen gelingt, der Zeitschrift genügend neue Kräfte zuzuführen, so dass sie noch lange eine möglichst fruchtbare Arbeit für unser Feld leisten kann.
Michael Schröter