Heft 65 (33. Jg. 2020): Otto Fenichel

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Editorial (S. 5–6)

Der Schwerpunkt dieses Heftes von LUZIFR-AMOR ist Otto Fenichel gewidmet, dem »Enzyklopädisten« der Psychoanalyse, der mit seiner Speziellen Neurosenlehre von 1931 und seiner Psychoanalytischen Neurosenlehre von 1945 die Ausbildung mehrerer Generationen von PsychoanalytikerInnen weltweit beeinflusste. Beide Werke stellen die Summe der Freud’schen Psychoanalyse dar, die er gegen das Auseinanderdriften nach Freuds Tod zu bewahren suchte. Gleichzeitig bemühte er sich, die emanzipatorischen und kritischen Aspekte der Psychoanalyse gegenüber der Anpassung an eine gesellschaftlich allgemeinverträgliche Psychotherapie zu vertidigen. Seine Rundbriefe (1934–1945) liefern hierzu ein beredtes Beispiel.

Bekannt ist auch Fenichels »Kinderseminar« am Berliner Institut, das er in den zwanziger Jahren gemeinsam mit Harald Schultz-Hencke, ab 1930 alleine leitete, ohne dass man aber nähere Details darüber weiß. Hier setzt die Arbeit von Steffen Theilemann an, der diese gemeinsame Leitung von Fenichel und Schultz-Hencke sowie beider Vor- und Entwicklungsgeschichte erhellt und einen Blick auf die Teilnehmer an dem Seminar wirft. – Beispielhaft für die Thematik im Kinderseminar wird zudem ein bisher unbekannter Vortrag Fenichels von 1928 abgedruckt, den Theilemann kommentiert. – Dem folgt eine Darstellung des Generationenkonflikts Ende der zwanziger Jahre am Berliner Institut, der u. a. eng mit den Namen Fenichel und Schultz-Hencke verbunden ist, von Michael Schröter.

Neu aufgefundenes Material im Fenichel- und Reich-Nachlass ermöglicht Andreas Peglau, weitere Einsichten in den Trennungsprozess zwischen Wilhelm Reich und Otto Fenichel zu vermitteln, die sich über den Umgang mit den Entwicklungen in der psychoanalytischen Vereinigung zerstritten. Ergänzend wird auch der Entwurf einer Rezension Fenichels über Reichs Massenpsychologie von 1933 auf der Webseite dieser Zeitschrift veröffentlicht. Die Besprechung war für Reichs Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie vorgesehen, konnte aber wegen des Zerwürfnisses dort nicht mehr erscheinen. – Michael Giefer und Elke Mühlleitner geben dann einen näheren Einblick in Fenichels »Tagesliste«, die er von 1911 bis 1945 führte. Die Einträge werden am Beispiel seiner Prager Zeit (1935–1938) in ihren verschiedenen Aspekten vorgestellt und geben einen Einblick in sein tägliches Leben und in die Prager Gruppe. – An Fenichels Prager Zeit erinnert auch der kleine liebevolle Artikel seines Schülers Theodor Dosužkov von 1948, den René Fischer einleitet. – Der Beitrag von Andreas Petersen gibt Einblicke in das Leben der Geschwister Nathanson, Cläre war Fenichels erste Frau, Hans war tiefenpsychologisch ausgebildeter Sozialfürsorger und Suse, die zeitweilig bei den Fenichels lebte, aktives Mitglied in der KPD.

In der Gruppe der freien Beiträge beschreibt Nina Bakman das Leben und Wirken von Fanny Lowtzky, Schwester des russisch-jüdischen Philosophen Lew Schestov, den Eitingon verehrte. Sie machte als Philosophin eine psychoanalytische Ausbildung in Berlin. In Palästina/Israel, wohin sie nach 1933 emigrierte, wurde ihr Seminar für Pädagogen von der laienfeindlichen psychoanalytischen Vereinigung nicht anerkannt. – Georg Augusta legt den ersten Teil einer größeren, quellenbasierten Untersuchung zum Verhältnis von Psychoanalyse und akademischer Psychiatrie in Wien vor. Er handelt von Otto Pötzl, bis 1922 Assistent an der Psychiatrischen Universitätsklinik. Nicht zuletzt durch experimentelle Traumforschungen überzeugte er sich von der Triftigkeit der Freud’schen Grundannahmen und wurde sogar Mitglied der psychoanalytischen Vereinigung. Als er 1928 den Wiener Lehrstuhl übernahm, förderte er die Arbeit von Analytikern in seinem Haus. – Claudia Frank hat erneut im Nachlass Melanie Kleins eine Entdeckung gemacht: Sie stellt Kleins Text »Beobachtungen nach einer Operation« (1937) in deutscher Übersetzung vor und ordnet ihn im Werkkontext als Baustein auf dem Weg zur paranoid-schizoiden Position ein.

Harald Kamm erzählt anhand eines italienischen Buches das Leben von Charles Maylan, der sich mit seinem Werk Freuds tragischer Komplex einen zwielichtigen Namen machte und dessen Familiengeschichte in die Hamburger gute jüdische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts zurückreicht. – Mit der dreibändigen Ausgabe Der Psychoanalyse auf der Spur, die Publikationen Carolines Neubaurs aus fast vier Jahrzehnten enthält, befasst sich Wolfgang Martynkewicz in einem Buchessay.

Michael Giefer